Kein Grund, sich fürs Alter zu entschuldigen

Die Vorurteile unserer Gesellschaft gegenüber älteren Frauen spiegeln sich auch in unserer Sprache wider. Zahlreiche Sprachbilder und Ausdrücke dienen ihrer Stereotypisierung: angefangenen bei der „würdevollen Großmutter“, die zum „Engel mit Heiligenschein“ verklärt wird, bis hin zur "alten Hexe". Kann sich unsere Gesellschaft eine alternde Frau abseits solcher Klischees überhaupt vorstellen?

Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.

Wenn von der „gadda“, der Großmutter, die Rede ist, sehen wir vor unserem inneren Auge eine würdevolle alte Dame, die zufrieden auf ihrem Sofa sitzt. Sie ist umgeben von kleinen und großen Enkeln, die sie bewundernd und ehrfürchtig anblicken und darauf warten, dass sie ihrer Rolle als Geschichtenerzählerin nachkommt. Natürlich sind ihre Geschichten getränkt mit Weisheit. Während sie spricht, unterbricht sie nur gelegentlich, um mit sanfter Stimme Worte der Lobpreisung zu murmeln. Sollte die Großmutter eines Tages sterben, erklärt selbst Gevatter Tod sie für frei von Schuld und Sünde. Auf Erden wie auch im Himmel gilt sie als eine Heilige. 

Dieses Bild zerfällt jedoch, wenn nicht länger von der „gadda“, sondern der „mar’a aguz“, der „alten Frau“, die Rede ist. Plötzlich haben wir das aus Folklore und Mythen bekannte Klischee vor Augen, das wir seit unserer Kindheit kennen: die hässliche Alte im schwarzen Kleid, die den Zauberstab schwingt. Angesichts dieser beiden Extreme stellt sich die Frage, ob es unsere Gesellschaft nicht vermag, sich die alternde Frau abseits solcher Klischees vorzustellen.

Dafna Lemish und Varda Muhlbauer haben in einer Studie das Bild der älteren Frau analysiert. Sie stellen die These auf, dass moderne Gesellschaften ältere Frauen zweifach diskriminieren: sowohl aufgrund ihres Alter als auch aufgrund ihres Geschlechts. Dabei definieren sie vier Hauptphasen in der Entwicklung solcher Frauenbilder, die in den Medien unablässig verbreitet werden und damit die Sicht auf Frauen im Alter stark prägen: Unsichtbarkeit, Stereotypisierung, Ausgrenzung und nur bedingte Integration in die Gesellschaft. Die Autorinnen plädieren dafür, diese Darstellungen kritisch zu hinterfragen. Frauen sollten dem Prozess des Alterns eine Bedeutung geben können, die mit ihren Erfahrungen und ihrer gelebten Realität im Einklang steht1.

 

Die gesellschaftlichen Konventionen für ältere Frauen

Das Patriarchat schreibt Frauen den Weg des Alterns genau vor. Es ist ein Weg, der starre Schablonen und Regeln vorgibt, die fest im kollektiven Unterbewusstsein der Gesellschaft verankert sind. Das ist nichts Neues, sondern die gleiche Form der Unterdrückung, Stereotypisierung und Kontrolle, die man Frauen in allen Lebensabschnitten auferlegt.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Konstrukt der „würdevollen Großmutter“ als kaum kaschierter Versuch, älteren Frauen Kontrolle abzusprechen, indem man ihnen ein Gewand aus Respekt, Mitgefühl und Zuneigung umhängt. Hier haben wir es in Wirklichkeit mit dem Wunsch zu tun, die ältere Frau durch ein klosterartiges Leben zu disziplinieren, nachdem sie die einzigen Merkmale verloren hat, die sie in den Augen des Patriarchats wertvoll gemacht haben: körperliche Attraktivität, Arbeitsfähigkeit und Produktivität. Nun beginnt der Prozess der Entfremdung, bei dem über Jahre hinweg Familienmitglieder, Bekannte und alle anderen Angehörigen der patriarchalischen Gesellschaft – auch die Frauen selbst – die ältere Frau nur noch über ihre Vergangenheit definieren. Der Blick in das Gesicht der alternden Frau wird begleitet von einem Gefühl der Nostalgie - als würde man alte Schwarzweißbilder betrachten, auf denen strahlende Gesichter den Zeichen der Zeit zu trotzen scheinen.

So wird der älteren Frau aus Mitleid ein Ehrenplatz inmitten der Gesellschaft gewährt – unter der Bedingung, dass sie die Rolle der „würdevollen Großmutter“ annimmt. Gleichzeitig tut die Gesellschaft alles, was in ihrer Macht steht, um sie auszugrenzen, zu verstecken und ihre öffentliche Präsenz auf ein Minimum zu beschränken, so wie es die Konventionen vorsehen. Auch kommt es vor, dass die Gesellschaft die Frau manipuliert und altersbedingte Schwächen ausnutzt, um an ihr Geld zu kommen. Wie oft schon mussten Frauen gegen ihre Willen Vollmachten unterzeichnen, die ihren Söhnen, Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern die Verwaltung und später völlige Übernahme ihres Hab und Guts zusprachen!

Das Patriarchat schreibt Frauen den Weg des Alterns genau vor. Es ist ein Weg, der starre Schablonen und Regeln vorgibt, die fest im kollektiven Unterbewusstsein der Gesellschaft verankert sind.

Die patriarchalische Gesellschaft hält für Frauen jeden Alters spezielle Schablonen bereit, in die sie versucht, sie zu zwingen. Oft treibt das die Frauen in die Isolation und vertieft ihr Gefühl der Entfremdung – mitunter so weit, dass sie jegliches Bewusstsein für sich selbst und ihre Stärken verlieren. Sie verlernen, wie sie sich neu erfinden und ein harmonisches Leben gestalten können. Im Lauf der Zeit trennt man Frauen von allem, was ihnen zuvor Kraft und Stabilität gegeben hat, aus Angst, sie könnten ihr Wissen und ihre Erfahrung nutzen, um die Regeln des Spiels zu ihren Gunsten zu verändern.

Das Labyrinth der Selbstzweifel, das sich im Laufe der Zeit immer mehr ausdehnt, ist für die patriarchalische Gesellschaft ein zentrales Instrument, mit dem sie ihre Macht auf dem Rücken der Unterdrückten ausweitet und den eigenen toxischen Narzissmus nährt. So wird die Entfremdung, die die Frau mit zunehmendem Alter nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft, sondern auch auf ihr wahres Selbst verspürt, schließlich so stark, dass sie zur Überzeugung gelangt, eine Last zu sein. Wer sie davon überzeugen will, dass die Veränderungen, die sie durchmacht, keine Zeichen von Wahnsinn und Hysterie sind, wird kaum noch zu ihr durchdringen. Zu abwegig scheint der Gedanke, dass das Leben auch jetzt noch viel mehr zu bieten hat, als das bloße Warten auf den Tod.

 

Wie sich das Altern der Frau in der Sprache spiegelt

In der arabischen Sprache wird eine ältere Frau „mar’a aguz“ genannt. Dem Lisan al-Arab zufolge kann jedoch „auch die Ehefrau eines Manns, selbst wenn sie jung ist, als ‚aguza‘ und ihr Ehemann, auch wenn er jung ist, als ‚sheikh‘ bezeichnet werden.“2 Außerdem scheint das Adjektiv „shamtha‘a“ die mit dem kollektiven Gedächtnis der arabischen Kultur am engsten verbundene Eigenschaft für die ältere Frau zu sein und meist gepaart mit „aguz“ (alt) aufzutreten. Doch was bedeutet „shamtha‘a“? Das Wörterbuch Al-Maany gibt an, dass „shamtha‘a“ eine Frau beschreibt, deren schwarzes Haar von grauen und weißen Strähnen durchzogen ist, oder einen Baum, der seine Blätter verloren hat. Das Wörterbuch Hans Wehr übersetzt schlichtweg „grauhaarig“. Trotz der ursprünglich harmlosen Wortbedeutung, ist „shamtha‘a“ heute jedoch ein ziemlich hässliches Schimpfwort, das in etwa das traditionelle Bild der Märchenhexe evoziert. Interessanterweise gilt dies nicht für die maskuline Form des Adjektivs, die mit „ashmath“ zwar existiert, aber nicht in Gebrauch ist. Wie also kam es dazu, dass das feminine „shamtha‘a“ zu einer Beleidigung für die Frau wurde? 

Im englischsprachigen Raum existiert der Mythos von der hässlichen und jähzornigen alten Hexe bereits seit dem frühen 13. Jahrhundert. Im Altenglischen nannte man sie „hægtesse“, wovon sich das noch heute übliche Substantiv  „hag“ ableitet, womit gemeinhin der Stereotyp der knurrigen alten Frau mit Hakennase beschrieben wird.

Im Zusammenhang mit dem englischen Wort „hag“ überraschend ist die Tatsache, dass es phonetisch dem ägyptisch-arabischen „hagg“ (Pilger) ähnelt. In Ägypten sprechen wir ältere Männer mit „Ya hagg!“ bzw. Frauen mit „Ya hagga!“ an, wenn wir ihre Ehrwürdigkeit und Tugendhaftigkeit betonen wollen.

Ursprünglich setzt sich das  altenglische Wort „hægtesse“ aus zwei Elementen zusammen: „Haeg“ kommt vom Altenglischen „haga“ (Hecke), während das zweite Element, „tesse“, wohl aus dem Norwegischen (tysja) für „Fee“ bzw. „verkrüppelte Frau“ stammt, vielleicht aber auch aus dem Gallischen (dusius) für „Dämon“ oder aus dem Litauischen (dvasia) für „Geist“, abgeleitet vom Verb für „herumfliegen“, „sich verstreuen“ und „verschwinden“.

Rosalind Clark hat sich in einer Studie mit der Herkunft des Worts „hag“ auseinandergesetzt und festgestellt, dass seine Wurzel auf „eine Frau mit großen spirituellen Kräften und übernatürlichen Fähigkeiten, die man zu respektieren und fürchten hat,“ verweist. 

Die Autorin kommt in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der vorchristlichen nordeuropäischen Religionen zu sprechen, welche die Frau als Verkörperung von Göttlichkeit betrachteten. Mit der Zeit verlor das Wort „hag“ diese Bedeutung, um in der Moderne schließlich mit verschiedenen anderen Konnotationen versehen zu werden.3 

Auch das Wörterbuch Britannica definiert „hag“ als eine Zauberin mit spirituellen Kräften.

Können wir also annehmen, dass die arabische Sprache, im Gegensatz zum Englischen, der älteren Frau nicht per se negativ und voreingenommen gegenübersteht? Wieso aber hat sich dann im Arabischen im Laufe der Zeit eine negative und vorurteilsbeladene Deutung der Bezeichnung „aguz shamtha‘a“ entwickelt und durchgesetzt, während sich die englische Sprache weiterentwickelt hat und sich vom  mittelalterlichen Erbe des Hasses weitgehend befreit hat?

 

Gegenbild zur Heiligen: Die „exzentrische Oma“ in der Literatur

Anfang 2021 veröffentlichte die New York Times eine Neuauflage des Romans Das Hörrohr der feministischen Autorin und Künstlerin Leonora Carrington. Ursprünglich 1974 erschienen, erzählt sie darin die Geschichte von Marian Leatherby, einer 92-Jährigen, die sich beim Altern streng an die Regeln der gesellschaftlichen Konventionen hält. Sie ist sie eine zutiefst friedliche und verträumte Person, die sich aber aufgrund ihres Hörverlusts zunehmend isoliert fühlt, besonders als sie spürt, dass die Menschen um sie herum Pläne schmieden. Marians Freundin Carmella ist der Gegenentwurf zu ihr: Mit ihrem ersten Auftritt im Roman wird klar, dass sich Carmella überhaupt nicht um Konventionen und um Vorurteile gegenüber älteren Frauen schert. Sie färbt ihre Haare rubinrot, schreibt ununterbrochen Briefe an einen unbekannten Liebhaber, raucht wie ein Schlot, weil es ihr Spaß macht, den Rauch in die Luft zu pusten, und furzt, wann immer sie kann, um sich Erleichterung zu verschaffen. Von ihrer Umgebung wird Carmella als „exzentrisch“ eingestuft.

Die Realität lehrt uns, dass die Masken von Respekt und Mitgefühl fallen, sobald eine Frau ihr Recht auf Macht und Selbstbewusstsein einfordert.

Der Roman vereint zwei alte Frauen, die völlig gegensätzlich zu sein scheinen, durch ein Band der Freundschaft. Im Verlauf der Handlung erinnern sie durch ihre Taten immer wieder daran, dass wir Frauen Schwestern im Geiste sind und uns gegenseitig unterstützen müssen. So schenkt die „exzentrische“ Carmella ihrer introvertierten Freundin ein Hörrohr, um ihr aus Einsamkeit und Isolation herauszuhelfen. Als Marian es benutzt, beginnt die Welt, vor der sie zuvor ihre Ohren verschlossen hatte – erst willentlich, um sich ihr zu entziehen, und schließlich unwillentlich, aufgrund ihres Hörverlusts – ihr hässliches Gesicht zu offenbaren. Nun erfährt sie, dass ihr einziger Sohn und ihre Schwiegertochter nicht länger auf Marians Tod warten wollen und stattdessen planen, sie schon früher loszuwerden. Sie schicken Marian in ein Altersheim, wo diese unmittelbar und mit aller Gewalt die Heuchelei der Gesellschaft gegenüber älteren Frauen zu spüren bekommt. Nun begehrt Marian zum ersten Mal in ihrem Leben auf: sie will die gesellschaftliche Diskriminierung nicht länger hinnehmen. Doch dafür wird sie ausgeschlossen und bestraft. 

Ihre Freundin Carmella kann sie retten, und bald begeben sich die beiden auf eine surreale Reise à la Alice im Wunderland.4 Sie durchschreiten die Tore zu einer Unterwelt, in der alte Mythen von weiblichen Mächten auf den Kopf gestellt werden. Der Roman endet völlig unerwartet und lässt die Leser*innen im Zweifel über alles zurück, was sie zuvor meinten, über die Welt älterer Frauen gewusst zu haben.

Im Verlauf des Romans erschaffen sich die nun beide als Exzentrikerinnen stigmatisierten Protagonistinnen eine eigene Welt in der „Peripherie des Lebens“, wo das Patriarchat keinen Einfluss hat und stattdessen dem Geist der weiblichen Urgottheit gehuldigt wird. Wir folgen den Schwestern im Geiste, Carmella und Marian, wie sie in den Seiten der Pistis Sophia lesen, dem Buch der Weisheit über den Ursprung des Universums im gnostischen Glauben, erzählt mit der Stimme weiblicher Macht. Auch erscheint den beiden Barbelo, die erste Inkarnation der Göttlichkeit in weiblicher Form. Sie spüren, wie die Macht durch ihre Körper fließt und all die krächzenden Stimmen verstummen lässt. Stimmen, die sie überzeugen wollen, dass ihre Knochen morsch, ihre Gedächtnisse schwach und ihre Gedanken durch kindische Fantasien vergiftet seien. Denn Fantasie ist nur in der Kindheit erlaubt – und der sind unsere beiden Heldinnen schon vor Jahrzehnten entwachsen.

 

Plädoyer für mehr Exzentrik

Die Neuauflage von Das Hörrohr wurde von Kritik und Publikum sehr positiv aufgenommen. Die surrealen Welten des Romans verleiteten Kritiker sogar dazu, ihn als „okkulten Zwilling“ von Alice im Wunderland zu betiteln. Nur dass Alice jetzt in ihren Neunzigern ist und Marian oder Carmella heißt.

Die Schriftstellerin, Aktivistin und Literaturpreisträgerin Olga Tokarczuk hat dem Buch in ihrem Artikel Eccentricity as Feminism eine eingehende Analyse aus feministischer Sicht gewidmet. Für sie repräsentieren die beiden Protagonistinnen ein Konzept, das mit einem Stigma behaftet ist: Exzentrik. Sie argumentiert, dass sich der Feminismus mit diesem Konzept versöhnen solle, um darin eine Alternative zur Perspektive des Patriarchats zu erkennen. Tokarczuk zufolge ist alles, was als exzentrisch gilt, eine geistige Annäherung an die Eigenschaften der archetypischen Göttin - jener Göttin, die die modernen patriarchalischen Gesellschaften immer schon unsichtbar machen wollten. Tokarczuk kommt zu dem Schluss, dass Exzentrik für uns als Feministinnen bedeutet, die Verbindung zu einer uralten, bislang verlorenen Macht und Weisheit wiederherzustellen.

Zur Untermauerung ihrer These zitiert Tokarczuk die Protagonistin Marian, wie sie ihre Entfremdung verdeutlicht: „Ich leide nie unter Einsamkeit. Ich leide aber sehr unter dem Gedanken, dass meine Einsamkeit mir von den vielen herzlosen wohlmeinenden Leuten weggenommen werden könnte.“5 Die über Neunzigjährige war davon ausgegangen, sie könne ihr Recht auf Selbstbestimmung wiedererlangen, nachdem sie das ganze Leben lang ihre gesellschaftlichen Pflichten erfüllt hatte. Stattdessen wird sie jedoch bestraft, als sie sich in die Welt der Hexen hineinziehen lässt.

Ich stimme der Leseart Tokarczuks zu. Schließlich lehrt uns die Realität, dass die Masken von Respekt und Mitgefühl fallen, sobald eine Frau ihr Recht auf Macht und Selbstbewusstsein einfordert.

Eine Maske nach der anderen bröckelt, sobald die Gesellschaft eine Bedrohung für ihre fein säuberlich konstruierten Frauenbilder zu erkennen meint.

Feminismus ohne ältere Frauen – ältere Frauen ohne Feminismus

Ebenso stimme ich denjenigen Feministinnen zu, die schon seit längerer Zeit dazu aufrufen, die Altersbarrieren innerhalb der Bewegung zu durchbrechen. Frauen, die das siebzigste Lebensjahr überschritten haben, sind selten Teil der feministischen Bewegung. Dem Feminismus andererseits fehlen diese Frauen – denn vielleicht können die Welten, in die sie verbannt wurden, uns Feminist*innen ein neues Selbstverständnis geben. Müssen eventuell wir Feminist*innen den Schritt auf sie zu machen, um uns diese Welten anzueignen und sie, die Älteren und ganz besonders die „Exzentrischen“, in unsere Schwesternschaft aufzunehmen?

Aus psychologischer Sicht lassen sich Hass gegen Frauen mit der gesellschaftlichen Angst vor ihrer Macht erklären. Wenn wir also die Verbindung zu unserer verlorenen Macht wiederherstellen, kehren dann die Hexen zurück – aber dieses Mal unter ihren eigenen Bedingungen?

 

Weckt die Hexen in euch

Die „Exzentrik“ älterer Frauen ist nicht mehr nur in der Literatur ein Thema. So gab es im Januar 2021, gerade als die Neuauflage des Romans Das Hörrohr viel Aufmerksamkeit erntete, zwei Vorfälle in Ägypten, die unser Interesse verdienen. Der erste Vorfall, die Feier einer Gruppe älterer Frauen in einem Privatklub, bei der Törtchen mit penisförmigen Dekorationen verspeist wurden, machte online Schlagzeilen und wurde in den sozialen Medien heiß diskutiert. Den Frauen wurden „mangelnder Respekt bezogen auf ihr Alter“ und „Exzentrik“ vorgeworfen. Sie wurden im Internet beschimpft bis sich sogar das ägyptische Parlament einschaltete. Dieses verlangte vom betroffenen Klub, Ermittlungen gegen die Frauen einzuleiten und strenge Maßnahmen zu ergreifen. Das Verhalten der Frauen provozierte die fragile toxisch-maskuline Gesellschaftsstruktur und musste daher Konsequenzen haben. Die Frauen wurden gezwungen, sich für ihre „Tat“ zu entschuldigen.

Zwei Tage nach diesem Vorfall verstarb die populäre muslimische Predigerin Abla al-Kahlawi. Ihr Tod schien im rechten Moment zu kommen, hatte sich die Gesellschaft doch gerade noch durch die Launen eigensinniger Frauen und Penistörtchen in ihren Grundfesten erschüttert gefühlt. Sie rettete sich darin, das traditionelle Bild der „liebenswürdigen Mutter“ und „mitfühlenden Großmutter", die die Predigerin für viele verkörpert hatte, zu zelebrieren. Al-Kahlawis Beerdigung hätte auch einer Heiligen Ehre gemacht und gab der Gesellschaft ein Stück des falschen Gefühls von Sicherheit zurück.

Seitdem sind die Frauen mit den Penisküchlein von der Bildfläche verschwunden. Sie verstecken sich – gemäß den gesellschaftlichen Konventionen - vor den Blicken der Gesellschaft. Der Grund ist nicht ein Gehörverlust wie im Fall der Romanfigur Marian. Sie verstecken sich, weil ihnen klar gemacht wurde, dass sie es mit der Sichtbarkeit und der Demonstration ihrer Lebensfreude übertrieben haben. Sie waren bereit, ihre innere Carmella in vollen Zügen auszuleben. Sie machten sich den Vorwurf, zu exzentrisch zu sein, nicht zu eigen, sondern waren stolz darauf – wie auf eine Medaille. Ein Leben ohne Entschuldigungen und Kompromisse.

Ich würde mir wünschen, dass alle älteren Frauen aufhören, sich für sich selbst und ihr Leben zu entschuldigen, und dass sie den Stimmen, die ihnen zuflüstern, sich von der Bühne des Lebens zurückzuziehen, eine Abfuhr erteilen. Ich wünsche mir, dass ältere Frauen nicht länger Reue für eingebildete Sünden zeigen, denn jedes Mal, wenn unsere Mütter und Großmütter Entschuldigungen verweigern, kommen wir nicht nur ihnen näher, sondern auch unserem eigenen Wunsch, uns nicht ständig rechtfertigen zu müssen.

Entschuldigen sollten wir uns unterdessen nur bei uns selbst, und zwar jedes Mal, wenn wir uns selbst verraten und die Verbindung zu unserem wahren Wesen verlieren. Wenn das bedeutet, dass wir Hexen sein müssen, dann los: Weckt die Hexen in euch und lasst die Magie wiederaufleben!

  • 1. Dafna Lemish/Varda Muhlbauer, Can’t Have It All: Representations of Older Women in Popular Culture, in: Women & Therapy Journal 35 (2012), Nr. 3-4, 165−180.
  • 2. Dieses Zitat wurde von der Übersetzerin aus dem Arabischen übersetzt.
  • 3. Rosalind Clark, The Great Queens: Irish Goddesses from the Morrígan to Cathleen Ní Houlihan, Savage, Md., 1991, 5, 8, 17 und 25.
  • 4. Die Zeichentrickserie „Alice im Wunderland“ ist hier verfügbar (Englisch).
  • 5. Dieses Zitat wurde von der Übersetzerin aus dem Arabischen übersetzt.