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Immigriert, alleinstehend, inhaftiert: Marginalisierte Frauen in den Zeiten der Pandemie

06/05/2020
1791 words

Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.

Gestern habe ich mir die Dokumentation Feminists: What Were They Thinking? der amerikanischen Regisseurin Johanna Demetrakas angeschaut. Es geht darin um die zweite Welle der Frauenrechtsbewegung in den USA in den Sechziger- und Siebzigerjahren sowie um einzelne Aktivistinnen, die dieser angehörten. Gegen Ende der Dokumentation kommt Catharine Stimpson zu Wort, die sagt: „Selbst […] im glorreichen Land von Uncle Sam und Lady Liberty ist es in mancher Hinsicht noch immer schwer, eine Frau zu sein. Und deshalb brauchen wir die Frauenbewegung noch immer1. Es war ein Gedanke, der mir schon seit Beginn der Krise im Kopf herumschwirrte.

Eine Freundin von mir thematisierte kürzlich in einem Artikel die Gewalt gegen Frauen während des Lockdowns. Sie beschrieb, wie sich Frauen in dieser Zeit unsicher und ausgeliefert fühlen. Ich bekam ihren Artikel in seiner ersten Version vor der Veröffentlichung zu lesen und dann noch einmal nach der Veröffentlichung. Die Redaktion hat die ursprüngliche Seele des Artikels gebrochen und ihn zu einem Nachrichtenbericht gemacht. Aber der nachrichtenmäßige Ton störte mich gar nicht so sehr, weil ich verstehe, dass Medien damit bestimmten Themen und Blickwinkeln Kredibilität verleihen wollen. Ich kann auch verstehen, dass sich Artikel nach dem Redaktionsstil richten müssen. Was mich wirklich störte, waren die Versuche, durch Umformulierung einiger Zeug*innenaussagen – waren sie auch noch so subtil – das Thema abzuschwächen. So nahmen sie dem Artikel jene Radikalität, für die sich meine Freundin in ihrer Stellungnahme gegen Gewalt bewusst entschieden hatte. Diese Versuche zogen sich durch den gesamten Text. Die eigentliche Absicht des Artikels, auf die gefährlichen Situationen jener Frauen aufmerksam zu machen, die – nicht nur in Tunesien, sondern überall auf der Welt – die Isolation mit ihren Tätern verbringen müssen, wurde damit konterkariert. In den vergangenen Wochen drehten sich alle journalistischen Aufträge, die mich erreichten, darum, Gewalterfahrungen von Frauen detailliert zu beschreiben. Einmal wurde sogar verlangt, ich solle Aussagen von Opfern „entsprechend dem, was ich über Gewalt und über Frauen weiß“ abändern.

Je länger ich die Berichterstattung zum Thema verfolgte, desto mehr wurde mir bewusst, dass der offizielle Diskurs und die Mainstream-Medien sich nicht wirklich dafür interessierten, tiefgreifenden Wandel anzustoßen und jene Normen, die unser System beherrschen, zu verändern. Dort wurde das Leid der Frauen immerzu als eine Anomalie dargestellt, heruntergespielt und in grellen Farben ausgemalt. Die Medien befassen sich mit solchen Themen nur, um ihre Seiten zu füllen und mit großen Emotionen ihre Leser*innenschaft bei Laune zu halten – nicht mehr.

 

Der offizielle Diskurs will die Dinge nicht beim Namen nennen.

Ich ging verschiedene Szenarien durch: Ich stellte mir vor, eine schwangere Frau zu sein, die abtreiben will, dies aber nicht auf sichere Weise tun kann, weil solche Leistungen schon seit Beginn der Pandemie vollständig zusammengebrochen sind. Ich stellte mir vor, ich sei eine Frau aus Côte d’Ivoire, die nach einer Vergewaltigung aus ihrem Land geflüchtet ist und jetzt in einem Fastfood-Restaurant am Nordufer von Tunis Teller wäscht. Immerhin werde ich hier nicht vergewaltigt und verdiene genug, um nicht zu hungern. Ich stellte mir vor, eine Gefängnisinsassin zu sein, die durch eine Generalamnestie früher entlassen wurde, aber keine Unterkunft, psychologische Betreuung und medizinische Hilfe bekommt. Verzweifelt frage ich mich nach dem Grund, ausgerechnet inmitten dieser Pandemie auf die Straße gesetzt zu werden. Ich stellte mir ein Leben als Landarbeiterin vor, die der Lockdown drei Dinar Lohn täglich und die leeren Mägen ihrer Kinder kostet. Dies waren allesamt Szenarien, die aus dem Rahmen traditioneller Familienstrukturen fallen und uns in der öffentlichen Debatte vorenthalten werden. Und jedes Mal, wenn ich mich über die Ausnahmeregelungen zur Corona-Krise informierte, schien mir das Problem sozialer Stigmatisierung umso akuter. Ich betrachte die Regierungsmaßnahmen deshalb als gescheitert, weil sie es nicht schaffen, die Pandemie einzudämmen und gleichzeitig die Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, ohne dabei die Rechte vieler zu verletzen oder ihre gesellschaftliche Isolation weiter zu vertiefen.

Der offizielle Diskurs will die Dinge nicht beim Namen nennen. Er will uns auf unsere Familien und das patriarchalische Familiensystem reduzieren. Dabei steht er der Krise der Frauenarbeitslosigkeit, die ein Resultat jahrzehntelanger wirtschaftlicher Marginalisierung ist, gleichgültig gegenüber. Dabei sind es die Arbeiterinnen unserer Familien, die sich der Gefahr am stärksten ausgesetzt sehen. Der Prozentsatz erwerbstätiger Frauen in unserem Land beträgt mehr als 75 Prozent. Die meisten von ihnen sind im informellen Sektor tätig, zum Beispiel als Landarbeiterinnen, Hausangestellte oder in kleinen Fabriken. Frauen sichern neunzig Prozent unserer Obst- und Gemüseproduktion. Einer aktuellen Publikation des Zentrums für Forschung, Studien, Dokumentation und Information über Frauen (CREDIF) mit dem Titel Gleichberechtigung in der Erbschaft zufolge, machen Frauen mit 90 Prozent den überwiegenden Teil der Arbeitskräfte im Textil- und Bekleidungssektor aus, sowie 45 Prozent im Pharma- und Apothekensektor. Global gesehen stellen sie 70 Prozent der Arbeitskräfte im medizinischen und paramedizinischen Sektor, wobei viele von ihnen an vorderster Front zur Bekämpfung von COVID-19 und Pflege der Kranken stehen. Nicht nur in Tunesien also setzt die Pandemie Frauen auf verschiedenstem Weg der Todesgefahr aus. Was mir nicht in den Kopf will: Wie kann die Welt derartig ihre Augen und Ohren vor dem Leid dieser Frauen verschließen? Und wie kann es sein, dass politische Entscheidungsträger*innen mit ihrem Krisenmanagement noch zur Vertiefung sozialer Unterschiede und der Feminisierung des Todes beitragen?

Ich lauschte dem Regierungschef, wie er mit Zahlen und Fakten die Bedürfnisse der Sozialschwachen und die staatlichen Hilfsmaßnahmen aufzählte. Doch bei all diesen Zahlen kam er nicht einmal annähernd auf die vielfältigen Formen der Unterdrückung von arbeitenden und erwerbstätigen Frauen zu sprechen. Bei seinen Zahlen ging es nur um Haushalte und Institutionen. Ich sehe hier eine  Diskriminierung jener 52,5 Prozent bedürftiger Familien, die eine Frau als Oberhaupt haben, wie auch von Alleinstehenden und anderen Menschen, die in dieser Rhetorik staatlicher Fürsorge nicht erfasst werden. Im Grunde drehte sich die Sorge lediglich um Familien mit begrenztem Einkommen, Selbstständige und kleine Firmen. Hier geht es jedoch nicht nur um soziale Fürsorge, sondern um eine Verflechtung verschiedener verpflichtender Systeme, die sich unmittelbar auf die Realität von Frauen auswirken.

Es war schwierig an Nadjat und Souad, die beide als Haushaltshilfen arbeiten, heranzukommen. Nadjat kann nicht ans Telefon gehen, wenn ihr Mann zu Hause ist, sodass es Tage dauerte, bis wir den richtigen Moment für ein Gespräch fanden. Souad hingegen lebt gemeinsam mit ihrer autistischen Tochter und einem Ehemann, dem der Corona-bedingte Hausarrest die Nerven raubt. Sie findet einfach keine Zeit für sich. Täglich verwandelt sich Nadjats und Souads Zuhause bereits beim kleinsten Problem in eine Hölle und doch beschweren sich die beiden weniger über die häusliche Gewalt als über den Hunger und die wachsende Schwierigkeit, ihre Kinder satt zu bekommen. Und dafür arbeitet Nadjat seit dreißig Jahren: „Ich habe mich keinen Tag meines Lebens über die Anstrengungen der Hausarbeit, die schlechten Verkehrsverbindungen oder das geringe Gehalt beschwert. Doch als die Quarantäne angekündigt wurde, informierte mich meine Arbeitgeberin, dass ich nicht mehr zu kommen brauche. Sie lehnte es ab, mir einen Vorschuss auszuzahlen. Sie sagte, dass es ja keine Garantie gäbe, dass ich irgendwann wieder bei ihr arbeiten würde, obwohl ich ihr Haus seit dreißig Jahren putze.“ Souad sprach kummervoll über ihre autistische Tochter und dass es derzeit kaum Wege gäbe, an Nahrungsmittel zu kommen: „Corona ist barmherziger als das, was meine Tochter und ich während der Quarantäne durchmachen.“

 

Im Umgang mit dieser Krise brauchen wir einen feministischen Ansatz. Der Staat muss das Leid von Frauen ernst nehmen, denn sie sind wirtschaftlich am schwächsten, und gleichzeitig am produktivsten.

 

Der Artikel eines Freundes, Fouad Ghorbali, mit dem Titel „Tunesien in Zeiten von Corona: Eine Gesellschaft der Gefahren und eine Zeit der Unsicherheit“, fasst meine Gedanken zu sozialer Diskriminierung während der Pandemie gut zusammen. Darin schreibt er: „Es zeigt sich, dass die Corona-Pandemie keinesfalls alle gleichermaßen trifft und klassenübergreifend ist. Wir sitzen eben nicht "alle im selben Boot", wie es uns die tunesischen Medien in dieser Krise weismachen wollen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Corona schwächt einerseits die Einnahmen des Staates und reproduziert andererseits Ungleichheit, die zur Vertiefung der Kluft zwischen den sozialen Schichten beitragen wird.“ Im Umgang mit dieser Krise brauchen wir einen feministischen Ansatz. Der Staat muss das Leid von Frauen ernst nehmen, denn sie sind wirtschaftlich am schwächsten, und gleichzeitig am produktivsten. Er muss auf die Krise reagieren, ohne Frauen weiteren Risiken wie Hunger, Gewalt und Tod auszusetzen.

Sehr beunruhigend war die Lage auch für afrikanische Immigrant*innen. Vermutlich trugen sie von Lockdown und Isolation den größten Schaden davon. Sie mussten viele Wochen darauf warten, dass der Staat zumindest ansatzweise auf ihre Bedürfnisse einging, da die „Kinder des Landes“ beim Maßnahmenpaket im März und April die Priorität erhielten - die Situation der Immigrant*innen wurde zunächst nicht berücksichtigt.

Ich setzte mich mit einer Reihe von lokalen Vereinen zur Unterstützung von Immigrant*innen in Verbindung. Ali Bousalem, Geschäftsführer des Vereins Mawjoudin – We Exist, betonte, dass der Mangel quantitativer Daten eine Hürde sei, denjenigen Hilfe zukommen zu lassen, die sie bräuchten. Sein Verband konzentriere sich deshalb auf die Unterstützung von nicht mehr als dreißig Begünstigten. Dann gibt es die Jugendorganisation By Lhwem, die als Vermittlungsausschuss in den ärmeren Vororten im Norden von Tunis agiert, genauer gesagt in Bhar Lazreg, Salama und El-Aouina. Der Ausschuss dokumentiert Menschenrechtsverstöße gegen Immigrant*innen aus Subsahara-Afrika und greift unmittelbar zu ihrem Schutz ein. Außerdem hilft er in anderen dringlichen Fällen wie der Nichtauszahlung von Löhnen oder dem Verlust der Unterkunft. Vereine wie By Lhwem und Mawjoudin koordinieren ihre Hilfsleistungen mit der Gemeinde Al-Marsa, die sich seit Wochen zu einer Sammelstelle für Sachleistungen für Immigrant*innen aus den nördlichen Vororten entwickelt hat.

Ich denke nicht, dass das Problem einzig im Umfang der Hilfeleistungen, ihrem Verteilungsgebiet oder den halbherzigen Regierungsmaßnahmen liegt. Die Risiken, denen manche irregulären Immigrant*innen gegenüberstehen, sind sehr komplex. Andrea, die aus Côte d’Ivoire allein nach Tunesien gekommen ist, arbeitet in einem Laden für Erfrischungsgetränke und teilt sich mit ihren Freundinnen, die ebenfalls aus Subsahara-Afrika stammen, eine Unterkunft. In unserem Gespräch ging es ihr weniger um ihre eigene Situation als um die Sorgen befreundeter alleinerziehender Mütter: „Da sie Kinder haben, kommen die meisten meiner Freundinnen nicht mal an die grundlegendsten Dinge. Sie haben auch kein Recht auf medizinische Versorgung. Zurzeit lässt das Krankenhaus Mongi-Slim von uns gar keine mehr rein. Meine Freundinnen sind in allen Angelegenheiten völlig sich selbst überlassen.“ Animata und ihre Mitbewohnerinnen erhalten allerdings Unterstützung in Form von Sachleistungen. Nach anfänglichem Zögern erklärt sie: „Das Problem ist, dass die Hilfsleistungen für einige irreguläre Immigrant*innen unterbrochen wurden. Man muss nämlich eine Ausweisnummer angeben. Wenn die Papiere fehlen, dann bekommt man keine Hilfe.“

Am Telefon sprach ich mit der Direktorin des Nationalkomitees für Menschenhandel, Rawda Labidi, über das Problem der Verteilung von Hilfsleistungen an Immigrant*innen. Sie gab an, dass das Komitee die aktuelle humanitäre Notlage, in der man „nicht zwischen regulären und irregulären Immigrant*innen unterscheiden könne“, erkannt und damit begonnen hätte, Leistungen für mehr als 500 Einzelpersonen und Familien bereitzustellen. „Die Situation erfordert, dass wir Solidarität zeigen und ohne zu diskriminieren und auszugrenzen allen Menschen helfen.“ Sie kam auch auf die schwierige Lage afrikanischer Mütter in Tunesien zu sprechen: „Wir sorgen dafür, dass die Hilfe Neugeborene und ihre Mütter erreicht. Sie sind die Verletzlichsten unter den Betroffenen.“

Doch erscheint mir humanitäre Hilfe allein nicht in der Lage, die Gefahren in all ihrer Komplexität abzuwehren: Armut, Arbeitslosigkeit, gesellschaftliches Stigma, Rassismus und die Verletzung grundlegender Rechte wie das Recht auf Gesundheit. Dafür müssen das Nationalkomitee gegen Menschenhandel und andere agierende Organisationen, besonders jene der Exekutive, bessere und mutigere Entscheidungen fällen, die nicht auf Diskriminierung – egal welcher Form – basieren. Denn Ausnahmezustände sind wie bedeutende politische Ereignisse; sie sind wie Kriege, auch wenn uns dieses von Staatsoberhäuptern verwendete Wort nicht gefällt; sie sind Anlässe, dringende Problematiken anzugehen und sie sind Zäsuren in unserer Menschheitsgeschichte, in denen nicht geschwiegen werden. Stattdessen gilt es in solchen Momenten, autoritäre Grundsätze zu hinterfragen und umzustoßen.

Ich habe in dieser Zeit auch die Maßnahmen für Gefängnisinsass*innen verfolgt. Leider stellen die tunesischen Behörden keine Daten zur Anzahl inhaftierter Frauen und deren Aufenthaltsbedingungen zur Verfügung. Wir wissen auch nicht, ob die letzten beiden Generalamnestien für Frauen galten und für wie viele. Offizielle Sprecher*innen der Generaldirektion für Gefängnisse haben sich damit begnügt, auf die wichtige Rolle von Insass*innen bei der Herstellung von Schutzmasken zu verweisen. Aktuellen Zahlen zufolge gibt es derzeit sieben Nähereien in den Gefängnissen von Mornaguia, Manouba, Mahdia, Borj Roumi, Sousse, Jendouba, Kasserine und Haouareb, in denen Frauen unter der Aufsicht des Gesundheitsministeriums und der Generaldirektion durchschnittlich 4.600 Masken pro Tag herstellen. Das Lob des Gesundheitsministers, der die Leistungen der inhaftierten Frauen als „historischen Dienst“ bezeichnete, war natürlich nicht frei von Stereotypisierung. Hierin fand sich dasselbe Bild der Frau, das der offizielle Diskurs und die Mainstream‑Medien zeichnen wollten und welches das Ergebnis einer langen Geschichte gesellschaftlicher Teilung von Arbeit und Rollen ist. Demnach erträgt die Frau nicht nur tagtäglich anfallende Aufgaben, sondern verrichtet sie mit endloser Präzision, Hingabe, Aufopferung und Geduld. Ob in Familie oder Gefängnis: Die Frau ernährt und produziert ohne Gegenleistung.

Wir müssen diese Krise deshalb nutzen, um für unsere gerechten Anliegen aufs Energischste einzutreten, denn jedes dieser Anliegen landet heute auf dem politischen Verhandlungstisch oder muss politisiert werden. Die Feminisierung von Armut und Tod sowie die Rollenteilung innerhalb und außerhalb der Familie werden in der Corona-Krise nichts weiter schaffen außer noch mehr Gewalt. Und wenn die Pandemie eingedämmt ist, werden sie nichts weiter bewirken als eine Vertiefung von Stigma und Vorurteil. Es muss für uns als Feministinnen eine absolute Priorität sein, einen genderbasierten oder ganzheitlichen Ansatz unnachgiebig einzufordern, wenn wir dieses globale System der Ungerechtigkeit wirklich bekämpfen wollen.

 

  • 1. Die Übersetzung basiert auf der englischen Originalfassung aus der Dokumentation.