Vom Persönlichen zum Politischen – Feminismus und sexuelle Belästigung in Tunesien

25/10/2020
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Ein Jahr lange sammelte und veröffentlichte die Bewegung EnaZeda (auf Deutsch: „Ich auch“) Erfahrungsberichte von Frauen über sexuelle Belästigungen. Dadurch wurden die Aussagen der Opfer zum Gegenstand der Analyse und der Dekonstruktion von Gewalt. Die Bewegung ins Rollen gebracht hatte der Gerichtsprozess gegen den tunesischen Parlamentsabgeordneten Zohair Makhlouf aufgrund des Vorwurfs von sexueller Belästigung einer Schülerin. Wie haben Organisationen und Vereinigungen gegen sexuelle Belästigungen diesen Fall begleitet? Und was ist die Zukunft der tunesischen feministischen Bewegung angesichts einer institutionell-patriarchalischen Politik und angesichts von Gesetzen, die unfähig sind, Frauen vor Gewalt zu schützen und ihnen Gerechtigkeit zu ermöglichen?

Aus dem Arabischen übersetz von Daniel Falk. 

„Der Anklagepunkt der sexuellen Belästigung wird fallen gelassen, der Anklagepunkt unmoralischer Äußerungen beibehalten“, lautete nach neunmonatiger Verhandlung das Urteil im Fall des tunesischen Abgeordneten Zohair Makhlouf. Ihm war die sexuelle Belästigung einer Schülerin vorgeworfen worden. Die Vereinigung Aswaat Nisaa (auf Deutsch: „Frauenstimmen“), die das Mädchen begleitet, wandte sich am 14. Oktober 2020 mit einem offenen Brief an den Obersten Gerichtshof. Darin prangerte sie gemeinsam mit anderen Frauenrechtsorganisationen die „Verschleppung des Falls aus politischen Gründen“ an. Daraufhin entschied die Anklageabteilung am Berufungsgericht in Nabeul am Donnerstag, den 15. Oktober 2020, den Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen den Abgeordneten wieder aufzunehmen. Parallel zu diesen neuen Entwicklungen präsentierte die Vereinigung anlässlich des einjährigen Jubiläums der EnaZeda-Kampagne Graffiti in der Avenue de Paris in Tunis und eröffnete die Ausstellung „EnaZeda“ im Französischen Kulturzentrum. Am 28. September wurde die Ausstellung mit Erfahrungsberichten und Zeichnungen von Frauen versehen. Die Zeichnungen zeigen Frauen, die die gleichen Spruchbänder tragen, mit denen sie seit einem Jahr gegen sexuelle Belästigung und den Fall Zohair Makhlouf protestieren. Die von Aswaat Nisaa moderierte Facebook-Gruppe EnaZeda hat 40.000 Follower*innen und besteht aus Tausenden geposteten Erfahrungsberichten. Allein diese Erfahrungsberichte – in denen die Opfer in ihren eigenen Worten Zeugnis ablegen  – führten zur öffentlichen Verurteilung sexueller Belästigung. Auf diese Weise wurde das „Persönliche zum Politischen“.

Ich hatte das Thema seit einiger Zeit nicht mehr verfolgt. Das letzte Treffen mit einer Gruppe von Bürgerrechtsaktivistinnen und Journalistinnen brachte mich im November des vergangenen Jahres mit der Website inkifada zusammen, um einen Podcast zu diesem Thema aufzuzeichnen und laut über das Thema sexuelle Belästigung nachzudenken. Am Ende der Diskussion stellte sich die Frage nach der Zukunft der „EnaZeda“-Bewegung, außerhalb des engen Rahmens der Organisationen und Vereinigungen. Es sind parallele Gruppen und Protestbewegungen außerhalb der neuen und alten Frauenvereinigungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen entstanden. Die „alten Frauenvereinigungen“ halten an ihrer gewohnten Position fest und „überlassen“ es alternativen Stimmen wie der Falgatna-Bewegung, spontan oder politisch motiviert den virtuellen und öffentlichen Raum zu erobern. Das Thema schlug erneut hohe Wellen durch eine Wortmeldung des Beschuldigten Zohair Makhlouf, in der er die Vereinigung Demokratischer Frauen instrumentalisierte und behauptete, diese habe ihn entlastet, da sie keine Erklärung zu seinem Fall abgegeben habe. Unter diesem Vorwand verbrachte er ein Jahr als Abgeordneter im Schutz der parlamentarischen Immunität. In einer Erklärung vom 23. September folgte dann die verspätete Reaktion der Vereinigung Demokratischer Frauen, in der sie sich den übrigen Stimmen anschloss, die die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten und seine Bestrafung für das Verbrechen der Belästigung forderten.

Die feministische Bewegung in Tunesien hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten unermüdlich für die stärkere gesetzliche Verankerung der Frauenrechte eingesetzt, sodass ihre anderen Bemühungen aufgrund dieses rechtlichen Kampfs kaum noch wahrnehmbar waren. Diese Zuschreibung wurde durch die patriarchalisch-institutionelle Politik seit der Unabhängigkeitszeit geprägt, eine Politik, die besagt, dass der Staat der einzige Garant der Frauenrechte sei und dass die tunesischen feministischen Organisationen und deren Protagonistinnen Seite an Seite mit dem Regime voranschreiten, das „die Rechte der Frau“ und ihren Platz in der Gesellschaft schützt. Die Feministinnen, die gegen die Institutionalisierung und den bürokratischen Feminismus antreten, widersetzen sich heute dieser politischen Vorstellung und fordern sichere Räume ein, ohne dass weitere Gesetze erlassen werden müssen, die nicht durchgesetzt werden können. Durch das Gesetz Nr. 58 des Jahres 2017 gegen die Gewalt an Frauen wurde die sexuelle Belästigung zur Straftat. Es sieht ferner den Opferschutz sowie die Bestrafung und namentliche Nennung des Täters vor. Drei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes gelang es jedoch nicht, den Belästigungsvorwurf gegen den Abgeordneten Zohair Makhlouf nachzuweisen.

Die Frauenvereinigungen können heute nicht alle Gewaltfälle lösen. Ohne eigenes Mitspracherecht werden ihnen die "Opfer", die sie unterstützen sollen,  zugewiesen. Die Aufteilung in unterschiedliche administrative Zuständigkeitsbereiche stellt ein Hindernis für jene Vereinigungen dar, die darauf hinwirken, dass „sämtliche“ Frauen „alle“ ihre Rechte bekommen. Diese Vereinigungen können nur unter Schwierigkeiten und großen Anstrengungen die Lücke schließen, die der Staat hinterlässt. Sie versuchen, den Frauen zu Gerechtigkeit zu verhelfen und mit umfassenden Angeboten die weiblichen Opfer zu unterstützen. Bei jedem neuen registrierten Gewaltfall wenden sich sämtliche Vereinigungen ausnahmslos an den Staat, wo sie sich aber einem unzulänglichen System gegenübersehen.  Der Staat hat sich gemäß den Bestimmungen des Gesetzes zu einem Bündel von Maßnahmen verpflichtet, die aber durch einen aufgesplitteten Koordinierungsprozess gesteuert werden, den ich bereits früher als unzulänglich und lückenhaft bezeichnet habe. Weibliche Opfer pendeln zu ihrem Schutz zwischen verschiedenen, sich überschneidenden Sektoren, vom Polizeirevier über das Krankenhaus und Fachzentren wie Netzwerken für psychische und rechtliche Beratung bis hin zur Justiz. Dieses Netzwerk funktioniert selbstverständlich nicht ohne einige notwendige Überschneidungen und die Begleitung der zuständigen Vereinigungen.

"Die Frauenvereinigungen können heute nicht alle Gewaltfälle lösen. Ohne eigenes Mitspracherecht werden ihnen die "Opfer", die sie unterstützen sollen, zugewiesen."

Auf der Verfahrensebene gehören die Verfolgung und Benennung der Täter ebenfalls zu den Verpflichtungen des Staates und der ihm zugehörigen Judikative. Aber praktisch ist nach wie vor die Verurteilung von Verbrechen der sexuellen Belästigung nicht möglich. Wenn nicht wegen der Länge der Verfahren, der Verschleppung und langsamen Vollstreckung, die Monate bis Jahre der Prozessführung erfordern, dann, weil der Vorwurf fallen gelassen wird oder in den meisten Fällen der Nachweis nicht möglich ist. Auf politischer Ebene hat der Präsident der Richtervereinigung, Anas Hamayidi, in einer früheren Mitteilung offengelegt, dass der Staatsanwalt des Berufungsgerichts in Nabeul in die Angelegenheit verwickelt ist und direkt zugunsten des Angeklagten Zohair Maklouf interveniert hat. Dies wurde auch im gleichen offenen Brief an den Obersten Gerichtshof erwähnt. Das Thema sexuelle Belästigung ist ein politisches Thema, durch das die tunesische Frauenbewegung ihre Stimme zu verlieren droht. Das Opfer leidet an meisten  – unter den Folgen des Systems der Straflosigkeit. Danach leidet die Bewegung als Ganzes, die mit jedem verlorenen Fall weniger Opfer vertritt und daran scheitert, Gerechtigkeit für die Frauen zu erreichen. Das System der Straflosigkeit führt zudem dazu, dass sich die vorherrschenden sozialen Normen weiter normalisieren, was in der Folge zu neuen Fällen von Gewalt führt. Darunter leiden dann nicht nur die direkten Opfer, sondern letztlich alle  Bürgerinnen und Bürger. Denn der Prozess, ein neues Bewusstsein zu schaffen und den vorherrschenden Diskus abzulösen, wird behindert.

Es ist Aufgabe der feministischen Vereinigungen und Organisationen im Bereich der Gewaltbekämpfung sexuelle Belästigung zu thematisieren. Diese Organisationen sind mit „der Tatsache konfrontiert, dass diese Fälle ein Verhalten symbolisieren, das nicht im Widerspruch zum System steht und keine Ausnahme ist“, wie es die amerikanische Autorin und Universitätsprofessorin, die radikal-feministische Aktivistin Catharine MacKinnon formuliert. Es ist schließlich das Verhalten einer Mehrheit, die mit ihrem politischen, sozialen, wirtschaftlichen und medialen Einfluss und Gewicht dominiert. Aus diesem Grund entscheiden sich einige radikalere Feministinnen, außerhalb dieses engen Rahmens aktiv zu werden, um Gerechtigkeit für alle Frauen zu erreichen und Widerstand zu leisten. Diese Zersplitterung begleitet die EnaZeda-Bewegung seit der Diskussion darüber, wie die gesammelten Erfahrungsberichte politisch genutzt werden sollten, die die Tür weit geöffnet haben für das Sprechen über unsere persönlichen Erfahrungen und Emotionen. Diese Zersplitterung lässt sich verstehen, wenn wir die Bewegung und die handelnden Protagonist*innen genauer betrachten. Denn die Feministinnen in Tunesien und die tunesischen feministischen Vereinigungen gehören nicht dem gleichen ideellen Hintergrund an, sie finden aber klare gemeinsame Standpunkte, zum Beispiel beim Thema der sexuellen Belästigung.

Die Arbeit der meisten Vereinigungen erfolgt innerhalb von nationalen, lokalen sowie auch internationalen und regionalen Programmen oder im Rahmen von Plänen der internationalen Zusammenarbeit und Programmen von Gebern und staatlichen wie nicht‑staatlichen Fachorganisationen. Diese Programme zielen nicht direkt auf die Vorgehensweise des Staates, daher gelingt es ihnen nicht, alle Themen zu Fällen der öffentlichen Meinung zu machen. Ein Kampf aber, der nicht auf der Straße ausgetragen wird, bleibt auf lange Sicht unfähig, einen grundlegenden Wandel hervorzubringen. In einem offenen Gespräch mit einer meiner feministischen Freundinnen darüber, inwieweit diese unterschiedlichen Fälle die tunesische Frauenbewegung beeinflussen, kamen wir zu dem Schluss, dass wir uns alle zusammen zumindest darin einig waren, die Barriere des Schweigens zu durchbrechen. Die sozialen Medien ermöglichen die Vernetzung und Mobilisierung in großen Maßen innerhalb kurzer Zeit. Viele dieser multimedialen Plattformen standen in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht zur Verfügung. Ich stieß kürzlich auf einen Videobericht eines Vergewaltigungsopfers auf der Seite LOOk TM, in dem das Thema Gewalt beleuchtet und mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen in Tunesien vorstellt werden. Wichtig fand ich, was das Opfer im letzten Abschnitt des Videos sagt: „Ich spreche, weil ich Frauen fand, die bereits vor mir von ihren Erfahrungen berichtet haben und mich so ermutigt haben. Ich hatte das Gefühl, nicht allein zu sein. Deshalb wünsche ich mir auch, dass andere Mädchen sich zu Wort melden und diese Barriere durchbrechen.“ 

„Ein Kampf aber, der nicht auf der Straße ausgetragen wird, bleibt auf lange Sicht unfähig, einen grundlegenden Wandel hervorzubringen.“

 

Catharine MacKinnon bietet einen wichtigen theoretischen Ansatz zum Thema, der durch Karam Nashar auf der Website al-Jumhuriya übersetzt wurde. Der Titel lautet „Feminismus, Marxismus, Ansatz und Staat: Eine Agenda für die theoretische Arbeit“. Darin schreibt die Autorin: „Der Feminismus ist die erste Theorie, die durch diejenigen hervorgebracht wurde, deren Interessen sie verteidigt. Ihr Ansatz umfasst die Realität, die abzubilden sie als Theorie anstrebt.“ EnaZeda ist es gelungen, das Persönliche zum Politischen zu transformieren. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass EnaZeda sich in zwei Bewegungen aufteilt. Die erste begann vor Jahren und entstand mit Beginn der weltweiten MeToo-Bewegung. Ihre Seite wird von einer Gruppe unabhängiger Feministinnen angeleitet (sie hat mehr als 59.000 Followerinnen und Follower). Die zweite Bewegung entstand vor mehr als einem Jahr infolge des Falls Zohair Makhlouf und besteht aus einer geschlossenen Facebook-Gruppe, die zur Vereinigung Aswaat Nisaa gehört. Ich werde hier von EnaZeda insgesamt sprechen, also als Gruppe von Erfahrungsberichten und unabhängig von den beiden unterschiedlichen Bewegungen. Die persönlichen Erfahrungen der Frauen, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum geschehen (wie übergriffige Berührungen in der U-Bahn), sind eine „Epistemologie des Politischen“ wie es die Wissenschaftlerin definiert. Das macht diesen Ansatz, der zwischen dem Persönlichen und dem Politischen wechselt, möglich. 

Ich komme zurück auf die übergriffige Berührungen in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich denke, wir alle haben diese Erfahrung gemacht oder wenigstens diese Art der sexuellen Belästigung erlebt. Ich erinnere mich an eine feministische und schlagfertige Freundin von mir. Mit Schlagfertigkeit meine ich hier, dass sie in der Lage war, sich selbst zu verteidigen und jeden Versuch einer Belästigung zumindest theoretisch abzuwehren. Sie wurde in der Metro angefasst. Daraufhin kehrte sie am Boden zerstört nach Hause zurück, da sie unfähig war, auf die Tat zu reagieren, obwohl sie sich der Realität der Belästigung und des Rechts auf Unverletzlichkeit ihres Körpers bewusst war. Dieser sexuelle Übergriff ist dermaßen normal und üblich, dass weder meine Freundin noch viele andere Freundinnen vor ihr es vermochten, den Täter zurückzuweisen. Denn im Verkehrsmittel fanden sie keine Unterstützung – niemand, der/die sich rührte und die Tat der Belästigung laut verurteilte. Erst wenn solche Taten von allen geächtet werden, können auch unsere Stimmen und unsere Schreie Gehör finden. Wir müssen uns unseren Raum erobern, die Normen stürzen und die Tat der sexuellen Belästigung und andere Taten der männlichen Hegemonie zu kollektiv im öffentlichen Raum verurteilten Taten machen. Wir müssen den Opfern Glaubwürdigkeit verleihen. Nichts ist stärker als ihre Stimmen, selbst wenn uns die Justiz nicht hört und wir uns in den Mühlen der Bürokratie drehen. Der erste Schritt, um die herrschenden Verhältnisse auf den Kopf zu stellen, ist, ihren Aussagen über Gewalt, Vergewaltigung, Belästigung und ökonomische Ausnutzung Glaubwürdigkeit zu verleihen. 

EnaZeda war erfolgreich in der Verbreitung der Erfahrungsberichte der Frauen und darin, die Opferberichte in einen Gegenstand politischer Analyse zu transformieren, zum Verständnis des Phänomens der Gewalt und um diese zu dekonstruieren und zu bekämpfen. Dieses Persönliche/Politische verurteilt und beweist einerseits das Verbrechen der sexuellen Belästigung. Andererseits vernetzt es die „innere akademische und emotionale Erfahrung“ – wie es Catherine MacKinnon ausdrückt – „zur Schaffung eines Systems entsprechend seiner immanenten Notwendigkeit.“ Diese lebenden Berichte setzen das Gesamtbild zusammen und legen die „am meisten geschädigten Räume, die kontaminiertesten Räume, aber auch die privatesten und intimsten Räume“ offen und besetzen sie neu, wie MacKinnon sagt. Dies geschieht auf politischer Ebene außerhalb des hegemonialen strukturellen Rahmens. Aus dieser Perspektive bieten die Narrative Stoff für die kritisch-feministische Analyse und für das Nachdenken über die Dynamiken der feministischen Arbeit an sich. Genau das trifft auch auf das vorliegende Thema zu.

„Die feministische Bewegung in Tunesien wird zukünftig eine Rolle in den großen politischen Schlachten spielen wird.“

Nach Ablauf eines Jahres wird es erschöpfend. Mal sammele ich meine Kräfte, mal lasse ich los. Allein die Erfahrungsberichte der Opfer lassen nicht nach, sie gehen ununterbrochen weiter. Diese Erfahrungsberichte bestätigen den hohen Pegel der Gewalt, genauso bestätigen sie sämtliche qualitativen Indizien wie die Normalisierung des patriarchalischen Systems und die soziale Stigmatisierung der Opfer. Daher scheint mir der Prozess der Evaluation der Arbeit der feministischen Organisationen der einzige Ausweg hin zu einer neuen Realität außerhalb der hegemonialen Bereiche. Der eingangs genannte Angeklagte genießt heute parlamentarische Immunität und er und andere Volksvertreter erlassen weiterhin unerbittliche Gesetze. Zudem perpetuieren sie die Praktiken der Diskriminierung, der Stigmatisierung und der Gewalt auf Grundlage des Geschlechts innerhalb wie außerhalb des Parlaments. Die Medien präsentieren sie als öffentliche und einflussreiche Persönlichkeiten und geben ihnen Raum, ihre Positionen und Meinungen zu vertreten. Dieses Beispiel mag reduktionistisch erscheinen. Aber strukturell gesehen stehen wir vor einem unfairen politischen Spiel. Man kann nicht nach einer Umwälzung der politischen Kräfteverhältnisse verlangen und dann gleichzeitig all dieses Unrecht und die Täuschung gutheißen. 

Es ist richtig, dass die Neuauflage des Falls von Zohair Makhlouf mich dazu motivierte, erneut über das Thema zu schreiben. Ich wusste vorher nicht, was genau ich durch die Betrachtung der politischen Seite des Falls erreichen wollte. Dann sah ich es klar vor mir, wie eine Szene aus einem Film: Vor dem Gebäude des früheren Oberhauses in Bardo, während des letzten Protests gegen die Übergriffe von Sicherheitskräften, versammelten sich die Protestierenden – junge Frauen und Männer, die meisten von ihnen jünger als ich, sie trugen Slogans, teilweise auf Englisch (Bilder). Ich sah vor mir in der Szene die Präsenz von Queer-Gruppen und eine wichtige Anzahl von feministischen Aktivistinnen, daneben einige junge Menschen der Linken und von früheren Widerstandsbewegungen wie Manisch Msamah (auf Deutsch: „Ich verzeihe nicht“). Diese Szene genügte, dass ich mich eilig wieder zurück an die Fertigstellung meines Artikels machte. Ich denke, dass die feministische Bewegung in Tunesien zukünftig eine Rolle in den großen politischen Schlachten spielen wird. Sie wird eine Bewegung des Widerstands sein, der aus den Narrativen ihrer Protagonistinnen entspringt, deren Stimmen sich emanzipiert haben und die nicht mehr unterdrückt werden können. Bevor ich meinen letzten Satz zu Papier bringe, wurde mir ein Facebook-Post angezeigt, in dem eine Freundin, Hinda Shanawi, schreibt: „Das Wichtigste in meinen Augen ist, dass sich die Bewegungen in Richtung einer echten Intersektionalität entwickeln, um den Widerstand zu organisieren.“