Wie kann ich auf meine Art um meine Großmutter trauern, fernab gesellschaftlicher Rituale?

12/10/2020
1002 wörter

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk

Der Körper meiner Großmutter entzog sich mir, als sie sich auf die Reise machte. Sie schloss ihre Augen, wandte sich resigniert an die Ewigkeit und begrüßte sie mit einem Kuss auf die Wangen. Sie ließ ihre weißen Hände herabhängen, voller Vorfreude darauf, zukünftig fern von meinem Großvater und fern von den Apfelbäumen auf dem Feld zu sein. Sie grüßte ihre Mutter, ohne zu fürchten, dass der Saum ihres Kleides ihre kompletten Knie freigab. Sie umarmte sie innig und reichte ihr das mit Bulgur gefüllte Brot, auf einem Feld ohne Dornen. Meine Großmutter kehrte nicht in ein Haus zurück, das ihr wohlriechendes, sich frei lockendes Haar gar nicht wahrnahm. Ein Haus, das Zeuge ihrer zahlreichen Blutergüsse und ihrer unter Schlägen fehlgeborenen Kinder geworden war.

„Gräme dich nicht, meine Liebe, lächle!“

Kurz vor der Beerdigung umringten Frauen ihren Körper, als liefen sie um die Kaaba in Mekka. Sie setzten sich in ihre Nähe und beteten für ihren Einzug ins Paradies. Ich fühlte mich gezwungen, mich ihren Ritualen anzupassen, um die prüfenden Blicke zufriedenzustellen. Ich sah Frauen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie behaupteten, meine Großmutter gekannt und geliebt zu haben. Ich sah, wie einige sich eine Zigarette nach der anderen anzündeten. Ich sah Mütter, die unter den anwesenden Mädchen nach potenziellen Ehefrauen für ihre Söhne Ausschau hielten. Ich hörte ihr Getratsche und ihr gedämpftes Lachen und vernahm auch, wie sie sich entschuldigend wieder verabschiedeten … denn letztlich hatten sie ihre Beileidspflicht ja erfüllt.

Meine älteste Tante drückte mir eine Gebetskette in die Hand und drängte mich, die Perlen zu bewegen. Eine andere Tante lehrte mich einige religiöse Phrasen, die ich dann vor mich hinmurmelte, während ich die aufeinander gestapelten Maamoul, mit Datteln gefüllte Kekse, trug. Ich hatte noch nie eine Trauerfeier besucht, daher kannte ich die dazugehörigen Rituale nicht. Zwischen all den Kaffeetassen fühlte ich mich, als sei ich mit ihr begraben worden, unter den weißen Laken, die die entblößten Körper voller Scham bedecken. Anstatt Mitleid zu bekommen musste ich viele Koranrezitationen über mich ergehen lassen. Ich wollte, dass sie aufhörten. Ich bat sie sogar darum, aber sie hörten nicht auf mich. Sie sagten zu mir: „Willst du dich etwa Gottes Wille widersetzen?“

Soll in denn an Gott glauben? Ich schwamm nicht mit im Strom ihrer Tränen, denn der sich daraus ergießende Strom war unrein: Und Gott hat etwas gegen Unreinheit. So wurde es mir jedenfalls gesagt. Gott nahm mich an meiner Hand, die ich schlaff auf meinen überkreuzten Oberschenkeln abgelegt hatte, und zog mich weg von ihren monotonen Glaubensbekenntnissen. Er ließ mich nicht auf ihren kalten, instabilen Stühlen sitzend zurück, sondern ließ mich die Arme meiner Großmutter greifen. Während sie einen Schritt vor den anderen setzte, aus Angst, hinzufallen, spürte ich ihre hervortretenden Adern unter der Haut. Sie war nicht stürmisch und anmaßend wie die Kinder, oder wie mein Großvater. „Bitte, zeige mir den Weg, Liebes“, bat sie, „ich möchte mir die Seifen ansehen.“

Mein Vater hatte nach dem Tod meiner Großmutter die Seifendosen, die sie stets liebevoll und sorgsam geordnet hatte, weggeräumt. Nun hatte er sie zum ersten Mal seit ihrem Tod wieder rausgeholt und in der Sonne ausgebreitet, damit der Schimmel ihre glänzenden Oberflächen und ihre mal farbigen, mal zerfressenen Seiten nicht beschädigte. Ich sah sie aufgereiht auf dem Geländer unseres Daches, am Rande des vernachlässigten Feldes. Die meisten Würfel hatten dieselbe Farbe wie das Innere einer unreifen Melone. So hatte ich sie noch nie gesehen. Kann es sein, dass sie traurig waren über den Verlust der Hände, die sie gestreichelt und geschmückt hatten? Womöglich haben sie auch geweint, ein aufrichtiges Weinen. Im Gegensatz zur Heuchelei der kondolierenden Besucherinnen.

Ich erinnerte mich an meine Großmutter, wie sie ihr Haar mit dem elfenbeinfarbenen Schaum schrubbte. Und ich stellte mir vor, wie sie das heiße Wasser über meinem braunen behaarten Körper verteilte, nachdem sie ihn mehrfach mit einem Schwamm geschrubbt hatte. Meine Haut vermisste sie und ihren Duft, während ich auf ihrem Bett liege, das noch immer nach ihr riecht, obgleich das Laken gewaschen wurde. Meine Haut sehnte sich nach dem Geruch ihrer Haut. Trockene und warme Haut. Wie Feuerholz. Wie Hauswände. Ich vermisse es, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihr Hemd auswringt, nachdem sie ihren morgendlichen Kaffee darauf verschüttete. Sie passte nicht recht zu ihren Koranexemplaren, selbst wenn sie auf einem schlief. Selbst wenn sie es küsste. Sie konnte die Schrift zwar nicht entziffern, hatte sie aber so verinnerlicht hatte, dass sie sie ständig still vor sich hinmurmelte. Die Welt jedoch hatte ihre schwachen „Gott ist groß“-Rufe abgedämpft. Wenn Gott mir nur jetzt langes Haar verleihen könnte. Schon allein wegen meiner Haare passte ich hier nicht hin. Wenn er mir jetzt nur auch noch zu einer anderen Hose verhelfen könne. Die Baggy-Jeans, die ich trug, zog alle Blicke auf sich. Denn meine gute, enganliegende Hose hatte ich an diesem Tag in Beirut vergessen. Wie konnte ich ahnen, dass meine Großmutter sterben würde und dass mein Hintern auf ihrer Trauerfeier zum Thema werden könnte. Ich trug also ihr einziges schwarzes Hemd. Und weinte. Ich weinte viel und voller Trotz gegenüber der Bitte meiner Tante, die meine feuchten Wangen mit ihrer trockenen Hand drückte: „Gräme dich nicht, meine Liebe, lächle!“

Meine blaue Sonne

Mehrere Monate später lag ich erschöpft in meinem rosafarbenen Bett. Ich lag zwischen den kalten Laken wie ein umgepflanzter Baumstamm im Schlamm. Ich schlief in dieser Nacht nicht auf meiner üblichen Seite. Ich kümmerte mich nicht um die Kälte der Laken an meinem entblößten Bauch. Ich schlief auf dem Rücken und ließ meinen Füßen die Freiheit, sich gegenseitig zu streicheln. Ich rollte mich nicht wie eine Schlange zusammen, wie mein Vater sagen würde. Ich breitete mein Körperteile aus. Meine kalten Finger suchten nicht Schutz an der Wärme meines Oberschenkels. Ich zitterte nicht. Ich fürchtete weder Frost noch Regen. Ich verfluchte den Winter nicht in dieser Nacht. Ich war zufrieden, alleine zu sein, in diesem Bett, das wiederholt versucht hatte, ein Haus für mich zu sein. In diesem Moment blickte ich zu dem einzigen Licht, das das Zimmer beleuchtete und sah im Blau des Lichts meine Großmutter. Ich sah sie, wie sie mir zuwinkte und ihre Arme weit öffnete, wie die Sonne. Ich fand sie dort, und sie umfasste für mich mit Ehrfurcht all die Koranverse, die ich vor dem Schlafengehen nicht rezitiert hatte.

 

--- Brief an meine Oma Nadhira

„Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich nach deinen weißen Taschentüchern suche, an vergessenen Orten, die nicht schlafen. Dann wiederum ertappe ich mich dabei, wie ich mich vor der lauten Stimme meines Großvaters ekle, der deine Sprache verstummen ließ. Oh, wie sehr möchte ich dich aus diesem Schweigen reißen, aus dieser lähmenden Stille, die dich immer ins Bett gewiegt hat. Ich wünschte, du gingest mit mir ans Meer, das du selbst nie erblickt hast. Sein Blau ähnelt dir sehr, es ist ruhend, unberechenbar und fern, so wie du. Oma, immer noch höre ich deine Demutsbekundungen an Gott bei jedem Gebetsruf. Immer noch klingen deine Mahnungen in meinen Ohren nach: „Wie der Seitenarm eines Flusses willst du immer abweichen, aber das ist schwierig, meine Liebe.“ Immer noch sehe ich das Leid der Frauen der Welt in dir. Immer noch schlafe ich neben Kissen, die deine Schwestern bestickt haben. Ich weine in der Saison von Zatar und Oliven und nachdem ich die Teppiche ausgebreitet und den Herd in Betrieb genommen habe. Immer noch schmelze ich in der Wärme seiner Glut dahin und wache morgens auf, bevor du aufstehst, um ihn zu reinigen. Liebe Großmutter, ich habe deinen Reisepass aufbewahrt, in dem kein Geburtsdatum von dir steht. Hast du deswegen Festtage so gehasst? Ich entschuldige mich für das eine Mal, als ich vergaß, dass du Analphabetin bist – „Meine Familie hat mir leider das Lesen nicht beigebracht“ – und für meine Klagen während unserer Telefonate. Danke dafür, dass du nicht den Platz meiner abwesenden Mutter eingenommen hast, sondern dich mit dem Dasein als Großmutter begnügt hast. Ich sah dich vor ein paar Tagen im Traum. Du lächeltest herzlich, als du dich von mir verabschiedetest: „Brauchst du etwas von mir, mein Kind?“ Ich bat dich, zu bleiben. Deine Antwort war kurz, aber fröhlich: „Ich wünschte das wäre möglich, aber ich kann nicht.“ Kann es wirklich sein, dass du gehen wolltest? Wer wird mich jetzt empfangen und „strahlende Sonne“ dabei rufen? Ich erinnere mich, wie ich einmal am Wochenende aus Beirut zu Besuch kam und dich zum ersten Mal gestützt auf einem Stock gehen sah. Das passte nicht zu dir. An diesem Tag spürte ich, wie du vor meinen Augen verblasstest, ich spürte, wie du mir zwischen den Fingern zerrannst. Als du krank wurdest, weigerte ich mich stur, deinen Zustand wahrzunehmen. Wie konntest du auf einmal so schwach werden? Meine Großmutter kennt doch weder Schwäche noch Tod, genau wie Beirut. Ich entschuldige mich dafür, dass mein Großvater derjenige war, der deinen Tod bekannt gab. Das Dröhnen der Minarette hallte in den Häusern des Dorfes wider, bis deren Bewohner*innen ganz betäubt waren. Ich entschuldige mich, weil dein Peiniger der Letzte war, der deinen Namen aussprach. Ich schreibe dir jetzt und ich schreibe über dich, um dich mit der Welt zu teilen. Wenn Frauen wie ich über Frauen wie dich schreiben, können sie sich womöglich befreien von den Leichengewändern, die zu tragen sie am lebendigen Leibe gezwungen werden. Ich schreibe dir, weil dir dein Leben gestohlen wurde. Ich schreibe dir im Wissen, dass du es nicht lesen wirst, aber im Versuch, dich dadurch ein Stück weit am Leben zu erhalten.