Anthropologie des männlichen Körpers

In den Humanwissenschaften wird der menschliche Körper oft als abstraktes Konzept behandelt, als gäbe es nur einen einzigen. Dabei offenbart die Realität ein ganz anderes Bild: das einer enormen Körpervielfalt.

Übersetzt von Jana Duman

Der Körper spielt eine fundamentale Rolle im Leben des Menschen, wäre ohne ihn doch keinerlei menschliches Handeln denkbar. So erklärt sich das durch die Geschichte hinweg anhaltende Interesse daran, ihn zu verstehen, zu kategorisieren und gedanklich zu fixieren. Mal wurde der Körper als vom Verstand getrennte Einheit beschrieben, wie bei Descartes; während andere, vor allem religiöse Gelehrte, ihn als Teil einer Einheit, als Sitz der Seele, verstanden. Diese Unterscheidung ignoriert jedoch den Einfluss von Kultur und Gesellschaft auf den Körper. Stattdessen wird der Körper als ein Teil der Natur betrachtet, der sich von Urteilen und Meinungen seines Umfelds nicht beeinflussen lässt.

Im 20. Jahrhundert ereignete sich ein bedeutender Wandel in den Humanwissenschaften vor dem Hintergrund postmoderner Auffassungen, welche komplexen und fluiden Verstehensansätzen den Vorrang vor etablierten Werten und festen Definitionen einräumte. Neue wissenschaftliche Gebiete und Konzepte wie Gender, Genetik und der Schutz der Menschenrechte verliehen der Forschung eine neue Dynamik und ein verstärktes Interesse am Körper. Der Körper wurde nun aus den unterschiedlichen Blickwinkeln von Kultur, Rhetorik oder Politik betrachtet. Den Ausgangspunkt für die Wissenschaft des Körpers bildete vor allem eine Frage: Wie erlebt und sieht sich der Mensch selbst?

Der maskuline Körper kann hier als eine Forschungslücke betrachtet werden, die es zu füllen gilt, sowie auch die Männlichkeitsforschung als Ganzes ein eher brachliegendes Feld darstellt. Im Mittelpunkt des Interesses stehen meist Frauenstudien und damit auch der weibliche Körper, während der männliche Körper auf eine Vorstellung von Maskulinität jenseits von Raum und Zeit beschränkt bleibt. Daher soll mittels der Untersuchung des Themas im Rahmen dieses Artikels die arabische Literatur um einen der vielen Sachverhalte bereichert werden, die ihr fehlen. Schon die Soziologin Raewyn Connell hat die Notwendigkeit betont, gängige Annahmen zum Wesen der Maskulinität zu hinterfragen, zu kritisieren und zu dekonstruieren – so wie es „westliche“ AnthropologInnen im Kontext der Weiblichkeit getan haben – um so das Gebiet der Maskulinitätsforschung grundlegend zu transformieren1.

Einführung: Das Konzept Maskulinität

Matthew Gutmann führt vier Definitionen an, über die sich die Forschung dem Thema Maskulinität üblicherweise nähert2: Sie sei entweder 1) all das, was Männer denken und tun; 2) all das, was Männer denken und tun, um Männer zu sein; sie definiere sich 3) durch den Vergleich von Männern untereinander, und der Annahme, es gäbe Männer, die maskuliner sind als andere; oder sie definiere sich 4) durch den Vergleich bzw. die Beziehung von Männern mit Frauen und umfasse all das, was Frauen nicht sind. Viele HistorikerInnen und WissenschaftlerInnen lehnen diese Definitionen jedoch ab und sehen im blinden Vertrauen auf augenscheinliche Formeln der Maskulinität eine potenzielle Hürde für das umfassende Studium des Themas3. Sie drängen darauf der Forschung ein modernes Konzept von Maskulinität zugrunde zu legen – als menschliche Natur spezifischer Art, deren Handlungen eng mit allen Aspekten des täglichen Lebens verbunden sind – und so zu einer räumlich und zeitlich differenzierten Problematik zu gelangen.

Chenjerai Shire verweist in seinem Artikel Men Don’t Go to the Moon. Language, Space and Masculinities in Zimbabwe, erschienen im Sammelband Dislocating Masculinity. Comparative Ethnographies4, auf die Existenz diverser Maskulinitäten, anstelle einer einzigen abstrakten Form von Männlichkeit. Er demonstriert, in welchem Umfang existierende Vorstellungen die Aktivitäten und Handlungen von Individuen beeinflussen bzw. wie sie Geschlechtszuschreibung in alltäglichen Lebensräumen bewirken und so das Selbst und die Selbstwahrnehmung von Menschen prägen. Bezugnehmend auf seine eigene Biographie erzählt Shire, wie Kinder im ländlichen Zimbabwe ihre sozialen Rollen als Männer erlernen, indem sie zum Beispiel an Orte wie den „Dare“ mitgenommen werden, einen traditionellen Treffpunkt für Männer zum Biertrinken.

Die geschlechtliche Zuschreibung von Räumen geschieht über die von Erwachsenen an Kinder vermittelten Verhaltensweisen von Umwerbung und Verführung. Dabei definiert sich Maskulinität durch die Fähigkeit des Mannes, die Frau zu dominieren und zu beeinflussen. Dies bedeutet, dass hier das Verständnis von Männlichkeit vollständig auf der Interaktion des Mannes mit der Frau beruht. Bei der Schaffung maskuliner Räume spielt auch die Sprache, durch die die Reproduktion von Mustern der Männlichkeit erst möglich wird, eine wesentliche Rolle. Diese maskulin attribuierten Diskursräume erwecken bei den dort Einkehrenden Gefühle der Besonderheit und Ungebundenheit. Hier können Männer frei heraus prahlen und ihre Erfahrungen mit den genannten maskulinen Verhaltensmustern demonstrieren.

Das Vorangegangene macht auf einen der wichtigsten Aspekte von Gender aufmerksam, der für Männer wie Frauen gleichermaßen gilt: die Bereitschaft der Individuen, die Maskulinität für den für sie vorgesehenen kulturellen Kontext zu gestalten. Dies beweist, dass Maskulinität sich nicht etwa über gesellschaftliche Tatsachen hinwegsetzt und Grenzen der Realität sprengt, sondern gänzlich den Mechanismen ihres sozialen Umfelds und dessen Wandel unterliegt.

Kritik an Geschlechtsdeterminanten

Die biologische Betrachtungsweise – auch „Biologismus“ genannt – dominiert in der Regel die wissenschaftliche Annäherung an den männlichen Körper5. Demzufolge ist der Körper ein von Hormonen und Genen gesteuerter biologischer Apparat, aus dessen Tatsachen sich geschlechtliche Unterschiede ergeben, die wiederum die gesellschaftlich-hierarchische Ordnung und Einteilung von Rollen nach „biologischen Geschlechtern“ bestimmen. Im Widerspruch dazu steht ein Ansatz, der den Körper als zunächst neutrale Oberfläche beschreibt, auf der kulturelle Symbole eingeprägt werden. Eine weitere Theorie vereint diese beiden Konzepte miteinander und sieht im sozialgeschlechtlichen Verhalten des Menschen das Resultat eines kombinierten Einflusses von biologischen und gesellschaftlichen Umständen.

Oyèrónkẹ́ Oyěwùmí, die sich in einer Studie eingehend mit der Gesellschaft der Yorùbá, einer der größten ethnischen Gruppen Nigerias, beschäftigt hat6, lehnt den biologistischen Ansatz ab. Sie zeigt, dass das Konzept Gender als Grundlage sozialer Ordnung in der Gesellschaft der Yorùbá vor der Kolonisierung nicht existierte und stattdessen eine hierarchische Ordnung bestand, die auf Alter und nicht auf körperlicher Physik basierte. Der soziale Status in solchen Gesellschaften sei flexibel und nicht starr. Außerdem stünden Frauen im Militär und Männer in der Krankenpflege im klaren Widerspruch zur gängigen westlichen Annahme, die Geschlechtereinteilung sei biologisch determiniert.

Körper und Maskulinitäten – und nicht ein Körper und eine Maskulinität

Emily Wentzell und Marcia C. Inhorn interviewten für ihre Studie mit dem Titel Masculinities. The Male Reproductive Body7 hunderte von Männern aus dem Nahen Osten und Mexiko, die unter Potenzproblemen und Zeugungsunfähigkeit litten. Sie widerlegten damit das gängige Stereotyp vom „östlichen Mann“ – einem polygynen, kinderreichen Patriarchen, der sich der Frau gegenüber bevormundend, hartherzig und gleichgültig verhält – und kamen zu dem Schluss, dass der verheiratete Mann des Nahen Ostens ein für gewöhnlich hingebungsvoller Familienmensch sei, der seine Liebe für seine Frau und Kinder auf körperlicher wie auch emotionaler Ebene ausdrücke. In Wentzell und Inhorns Studie spielt Kultur als grundlegender Faktor bei der Geschlechtszuschreibung und Entwicklung von Individuen allerdings keine Rolle.

Vorangegangenes vermittelt den Eindruck, weder Biologie noch Kultur seien absolute Faktoren bei der Ausbildung gesellschaftlicher Unterschiede. Raewyn Connell liefert eine Vielzahl kultureller und historischer Beweise für die Existenz geschlechtlicher Vielfalt in der Realität: Gesellschaften und Epochen, in denen Vergewaltigungen entweder nicht existieren oder selten sind; in denen homosexuelle Praktiken in bestimmten Altersgruppen üblich sind; oder in denen Alte und Bedienstete die Kindererziehung übernehmen, sodass die Rolle der Frau als Mutter wegfällt. Darüber hinaus sieht sie die Verallgemeinerung inhärenter Aggressivität des Mannes durch den von ihr beobachten wachsenden Anteil sanftmütiger Männer infrage gestellt.

Der männliche Körper

In den Humanwissenschaften wird der menschliche Körper oft als abstraktes Konzept behandelt, als gäbe es nur einen einzigen. Dabei offenbart die Realität ein ganz anderes Bild, denn hier herrscht enorme Körpervielfalt. Für die Manifestation von hegemonialer Maskulinität wird die körperliche Leistungsfähigkeit als einer der wichtigsten Pfeiler angesehen, mit deren Verlust das maskuline Geschlecht jedoch seine Unbesiegbarkeit verliert und sich der Bedrohung und Demontage ausgesetzt sieht8.

Im Rahmen einer kleinen aber wertvollen Studie9 beleuchteten Thomas Gerschick und Adam Miller, wie amerikanische Männer, die infolge von Unfällen oder Erkrankungen ihre körperliche Leistungsfähigkeit verloren, durch die sie zuvor ihrer Maskulinität Ausdruck verliehen hatten, mit dieser Realität umgingen. Ihre Forschung zeigte, dass es unter den Männern drei Hauptmechanismen der Bewältigung gab: 1) Verdoppelung der Anstrengungen um die Kriterien hegemonialer Maskulinität zu erfüllen, indem körperliche Probleme überwunden wurden; 2) Neuformulierung einer Maskulinität, die zu ihrem Ist-Zustand passte – unter Beibehaltung maskuliner Ansprüche wie Kontrolle und Selbstständigkeit; 3) Ablehnung aller gängigen Kriterien hegemonialer Maskulinität, bei der dem Körper ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, und zugleich die Entwicklung einer neuen politischen Einstellung, die sich gegen geschlechtsspezifische Vorurteile richtete. Trotz der Verschiedenartigkeit des Umgangs dieser Männer mit ihrer Situation entschied sich, wie Raewyn Connell bemerkte, keiner von ihnen dazu über die körperliche Dimension von Maskulinität hinwegzusehen.

In ihrer bereits erwähnten Studie verwiesen Wentzell und Inhorn auf die Bedeutung von Potenz und Fortpflanzungsfähigkeit bei Männern als fundamentale Determinante für Maskulinität. Sie zeigten, dass die Vorstellungen darüber, was einen idealen männlichen Körper ausmache, in der Realität stark variieren. Dagegen bleibt die Angst der Männer, aufgrund von Potenzverlust und Unfruchtbarkeit ihren gesellschaftlichen Status zu verlieren, die gleiche. Ein Teilnehmer aus Mexiko – 68 Jahre alt, verheiratet und reich an Kindern – gab mit den Worten: „Ohne meinen Penis fühle ich mich nicht als Mann“ zu verstehen, dass er trotz hohen Alters und Familie von der Angst beherrscht war, auf Grund seiner Impotenz nicht als echter Mann zu gelten. Ein anderer Teilnehmer aus Ägypten sprach von seiner Furcht davor, dass andere von seiner Zeugungsunfähigkeit erfahren könnten.

Fazit

Das Ziel dieses Artikels war es, auf das verschiedenartige Verständnis des Konzepts Gender im Allgemeinen und des Körpers im Speziellen aufmerksam zu machen. Es gibt nicht den einen Körper und die eine Maskulinität; vielmehr können Körper groß oder klein, schlank oder dick, muskulös oder schwach sein. Dieses breite Spektrum an Formenvielfalt wandelt sich im Fluss der Zeiten und Gesellschaften. Der männliche Körper ist davon nicht isoliert; er ist dem Einfluss von Zeit und Gesellschaft nicht etwa überlegen, sondern Resultat sozialer und biologischer Zusammenhänge.

  • 1. Vgl. Raewyn W. Connell, zitiert in: Liam D. Murphy/Paul A. Erickson, A History of Anthropological Theory, Ontario/New York 2017, 216.
  • 2. Vgl. Matthew C. Gutmann, Trafficking in Men. The Anthropology of Masculinity, in: Annual Review of Anthropology 26 (1997), Nr. 1, 385–409, hier 386.
  • 3. Vgl. George L. Mosse, The Image of Man. The Creation of Modern Masculinity, New York 1998, 4–6.
  • 4. Vgl. Chenjerai Shire, Men Don’t Go to the Moon. Language, Space and Masculinities in Zimbabwe, in: Andrea Cornwall/Nancy Lindisfarne (Hgg.), Dislocating Masculinity. Comparative Ethnographies, London 2016, 138–148, hier 146.
  • 5. Vgl. Murphy/Erickson, A History of Anthropological Theory, 213.
  • 6. Vgl. Oyèrónkẹ́ Oyěwùmí, What Gender is Motherhood? Changing Yorùbá Ideals of Power, Procreation, and Identity in the Age of Modernity, Basingstoke 2016.
  • 7. Vgl. Emily Wentzell/Marcia C. Inhorn, Masculinities. The Male Reproductive Body, in: Frances E Mascia-Lees (Hrsg.), A Companion to the Anthropology of the Body and Embodiment, Chichester/Malden, Mass., 2011, 307–319, hier 307.
  • 8. Vgl. Raewyn W. Connell, Masculinities, Berkeley, Calif., 2005, 54.
  • 9. Vgl. Thomas J. Gerschick/Adam Stephen Miller, Coming to Terms. Masculinity and Physical Disability, 1995