Gleichstellung im Erbrecht: Die Frau nach Haddads Vorstellung wird noch immer der Apostasie bezichtigt

Täglich kämpfen Tunesierinnen darum, das alte patriarchalische System in ihrem Land zu Fall zu bringen. Konservativ-islamische Gelehrte und Politiker wehren sich dagegen – indem sie beispielsweise Frauen die Gleichstellung im Erbrecht absprechen.

Übersetzt von Jana Duman

Vor etwa 90 Jahren sollte ein Student der ez-Zitouna-Universität in den Gassen von Sidi Mansour in Tunis gesteinigt werden. Man beschuldigte ihn, er habe mit einer seiner Forderungen, der Gleichstellung von Frau und Mann in Erbschaftsfragen, gegen das Gesetz Gottes verstoßen. Die Veröffentlichung seines Buchs „Unsere Frau in Scharia und Gesellschaft“ im Herbst 1930 stürzte den tunesischen Denker und Aufklärer Tahar Haddad in einen „Alptraum der Wut“. Ein Leidensweg zeichnete sich für den jungen, geistreichen Mann ab, als sich konservative Gelehrte und Schüler der ez-Zitouna Universität geschlossen gegen ihn erhoben und Kampagnen der Verfemung in Zeitungen, Zeitschriften und Moscheen gegen ihn lostraten. Sie nötigten die Regierung, das Buch zu verbannen und brachten den Studenten nicht nur um seinen Universitätsabschluss, sondern auch um seine Anstellung als Autor bei der Islamischen Wohltätigkeitsorganisation. So „verurteilte der ez-Zitouna Klerus innerhalb von zwei Monaten einen fleißigen Denker und Reformer sondergleichen als Apostaten, schmälerte seinen Lebensunterhalt und wiegelte Einfältige und Törichte gegen ihn auf.“1

Mobilmachung gegen eine Erbrechtsreform

In Tunesien scheint der „Alptraum der Wut“ noch immer existent zu sein: Am 5. Januar 2019 versammelten sich Dutzende von Imamen vor Tunis‘ Stadttheater, um ihren Protest gegen etwaige Reformen im Erbrecht zum Ausdruck zu bringen. Ihre Warnung war eindeutig: „Die Vorschriften der Vererbung sind eine rote Linie.“ Ein aus ihrer Feder stammendes Statement betonte, dass die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbe „ein Angriff auf unumstößliche Vorschriften Gottes“ sei, die kein „eigenständiges Ermessen“ (ijtihād) zuließen. Nachdem dem tunesischen Parlament ein Gesetzesentwurf zur Gleichstellung der Geschlechter im Erbrecht vorgelegt worden war, hatten bereits am 12. Dezember 2018 Gelehrte der ez-Zitouna-Universität eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht, in der es hieß, der Entwurf stelle „einen offenen Widerstand gegen die unumstößlichen Koranverse zum Erbrecht und einen Angriff auf ihre Vorschriften“ dar. Die ez-Zitouna-Gelehrten beließen es nicht bei diesem Protestschreiben. Einige von ihnen erklärten zudem, eine Fatwa erlassen zu wollen, welche „die Wahl von Abgeordneten oder Parteien verbietet, die das Gesetz unterstützen, und ihre Wähler zu Sündern macht“.2 Im Rückgriff auf das traditionelle System religiöser Auslegung und Untersagung wollen die konservativ-religiösen Eliten das Gleichstellungsgesetz zum Scheitern bringen. Dabei berufen sie sich auf alle religiös-rechtswissenschaftlichen Texte, die seit dem Mittelalter überliefert wurden. So hatten es schon die Gegner Haddads im letzten Jahrhundert gemacht – sie wollten verhindern, dass von seinem Buch „Unsere Frauen in Scharia und Gesellschaft“ irgendwelche religiös motivierten reformerischen Impulse ausgingen. Die Gelehrten, die die Mitteilung von 2018 verfasst hatten, unterschieden sich in ihrem Denkansatz und Vorstellungen nicht vom Hanafiten Sheikh Muhammad al-Salih Ibn Murad, seinerzeit selbst Gelehrter der ez-Zitouna. Dieser hatte 1931 unter dem Titel „Trauer um die Frau Haddads“ eine Gegenschrift zu Haddads Werk veröffentlicht. Darin behauptete er, dass das Buch „die erste unserer identitätsstiftenden Vorschriften einreißt: die Vererbung, und somit zu verändern begehrt, was Gott uns auferlegt hat“.3

Religionsgelehrte ignorieren den gesellschaftlichen Wandel

Die religiösen und politischen Eliten gehen nun gegen den Gesetzesentwurf zur Gleichstellung in die Offensive. Sie begründen ihren Vorstoß damit, dass die Vererbung im Koran endgültig geregelt und das System damit „geschlossen“ sei. Es könne weder ersetzt noch neu interpretiert werden. Diese vom Menschen losgelöste, allein auf die Offenbarung vertrauende Lesart verschweigt zum einen die juristischen Debatten zum Erbsystem, die es seit der Zeit des Propheten Mohammed und seiner Begleiter immer schon gegeben hat. Zum anderen missachtet sie auch, dass es stets Interaktionen zwischen Korantext und der jeweiligen Realität gegeben hat. Die sich verändernden gesellschaftlichen Situationen spiegeln sich durchaus in der jeweiligen Deutung des Korans wider. Doch es ist diese Annahme der „Abgeschlossenheit“, die die islamische Rechtsprechung seit Jahrhunderten prägt, zusammengefasst in der Phrase „iġlāq bāb al-ijtihād“ (etwa: die Tür zum eigenständigen Ermessen, bzw. ijtihād, ist geschlossen), die man auch in der Frage des Erbrechts als fest geregelte, unumstößliche Tatsache versucht durchzusetzen. So äußerte sich auch die Koalitionspartei Ennahda, die in einer Mitteilung ihres Schura-Rates vom 26. August 2018 klarstellte, sie werde am Erbsystem, „wie es in den unumstößlichen Texten des Koran und der Sunna beschrieben ist“, festhalten.

Religiöse Argumente als Vorwand

Die religiös-politischen Gegner des Gesetzesentwurfs versuchen, die Diskussion zum Thema Erbe unter dem Vorwand göttlicher Determiniertheit einzuschränken und so die Wechselbeziehung zwischen Text und Realität zu unterbrechen. Dies bestätigt auch der Jurist Sadok Belaïd, indem er kommentiert, dass der Koran „auf individueller und gesellschaftlicher Ebene neue Werte und Grundlagen, insbesondere im Erbrecht, etablieren wollte. Entgegen dem, was religiöse Rechtsgelehrte jedoch behaupten, ist letzteres nicht fest und unveränderlich. Gott wollte mit den zwei Versen 11 und 12 der Sura ‚Die Frauen‘ keine endgültige, vollständige Kodifizierung der Materie vorlegen und kein neues System im Erbrecht etablieren.“ Und weiter sagt er: „Die Erbfrage wird im Koran nicht in einem vorgefertigten ‚einzelnen Block‘ abgehandelt. Vielmehr wurden Vorschriften offenbart und verändert, je nachdem was reale Umstände und Probleme erforderten.“4

Ein patriarchalisches Erbe kämpft im Namen des Heiligen

Hinter den heiligen Texten – von denen konservative Geistliche behaupten, sie seien losgelöst von Raum und Zeit – lauern patriarchale Denkmuster, welche die Gleichstellung von Frau und Mann ablehnen. Die von den Gegnern des Gesetzesentwurfs behauptete religiöse Belegbarkeit verweist auf die Internalisierung des Gedankens, die Frau sei dem Mann unterlegen, daher sei eine Gleichstellung mit ihm nicht möglich. Auf dieser Grundlage will der religiöse Diskurs die Realität sozialer Ungerechtigkeit gegenüber der tunesischen Frau in der von patriarchalischen Traditionen bestimmten Erbschaftsfrage ausblenden, um so die Debatte zu kontrollieren und auf den Vorwurf einer „Entstellung des koranischen Texts“ zu reduzieren.

In der frühesten Zeit des Islam markierte die Anerkennung des Rechts der Frau auf einen Anteil des Erbes einen Wertewandel in der Gesellschaft. Er verdrängte das tribale System familiärer Vermögensverwaltung und ließ Momente von Gerechtigkeit und Gleichstellung am Horizont aufscheinen. Doch zeigt der Verlauf der Geschichte, dass dieses Recht nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort in gleichem Maße gegeben oder ausgeübt wurde. Frauen litten auch weiterhin unter Erniedrigung und Unterdrückung. Ihr Status „verschlechterte sich weiterhin unter dem Eindruck verschiedener gesellschaftlicher Phänomene, obwohl der Prophet ihn theoretisch verbessert hatte.“5 Dies ist die historische und soziale Realität, mit der sich die Religionsgelehrten und ihre Unterstützer nicht auseinandersetzen wollen. Sie offenbart den Einfluss gesellschaftlicher Interessen in der Deutung des Erbrechts, anders als der religiöse Diskurs vermuten lässt, indem er die vermeintliche Heiligkeit heraushebt. Es war Tahar Haddad, dem es auf bemerkenswerte Weise gelang, die gesellschaftliche Realität der tunesischen Frau in den 1930er-Jahren zu skizzieren. Dies konnten selbst seine Gegner nicht bestreiten, deshalb versuchten sie, ihn mittels rein religiöser Auslegung der Erbvorschriften in seine Schranken zu weisen.

Der konservative Islam will den Stillstand von Geschichte und Gesellschaft

Neben den überwiegend religiösen Argumenten, die in der Kontroverse um das Erbrecht vorgetragen werden, gibt es auch einige gesellschaftliche. So hieß es in der bereits genannten Stellungnahme der ez-Zitouna-Gelehrten, dass der Entwurf, „würde er zum Gesetz werden, das Wesen der tunesischen Familie zugrunde richten, gesellschaftliche Beziehungen zerreißen und sozialen Frieden und Sicherheit bedrohen würde“. Ähnliches postulierte auch die Ennahda-Bewegung, die in ihrer Mitteilung warnte, die Gleichstellungsinitiative im Erbrecht werfe „eine Reihe von Befürchtungen um die Stabilität der tunesischen Familie und unser Gesellschaftswesen“ auf. Diese gesellschaftlich-religiöse Konzeption verweist auf ein mangelndes Verständnis für die strukturellen Transformationen, die die tunesische Gesellschaft und insbesondere die Stellung der Frau erfasst haben. Sie argumentiert vielmehr moralisch in Bezug auf das Individuum und die Gesellschaft. Erklärte Absicht ist der Erhalt von Stabilität und Gleichgewicht, auch wenn dies zu Lasten der Frauenrechte oder des gesellschaftlichen Wandels geht. Doch die angeblich so manifesten Familienbeziehungen zeigen bereits Risse – bewirkt durch die gesellschaftliche Realität und ihre kontinuierlichen, verborgenen Transformationen, auch wenn dies die patriarchalisch-konservativ Gesinnten nicht wahrhaben wollen.

Diesen Verfechtern des Patriarchats widerspricht auch ein Bericht der Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichberechtigung, den sowohl die Ennahda-Bewegung als auch die mit ihr assoziierten religiösen Eliten nicht anerkennen. Der Bericht beleuchtet die gesellschaftliche Grundlage der Erbschaftsfrage und ihren Zusammenhang mit den Verhaltensweisen der Aufteilung von Vermögen innerhalb der Familie. Er kommt zu dem Schluss, dass sich diese Verhaltensweisen genauso verändert hätten wie allgemein die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen in Tunesien. Insbesondere hätten der Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt und ihre Leistungen im Bildungsbereich den sozialen Wandel maßgeblich angetrieben: „Der Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt hat die traditionelle, auf der Trennung der Geschlechter nach Berufen und Rollen beruhende Landschaft erschüttert. Er hat zudem einen Wandel in den von Geschlecht und Alter bestimmten Machtbeziehungen bewirkt, sodass der Ehemann/Vater nicht länger als einziger Verantwortlicher für die Operationen des Familienbetriebs und das Management seiner wirtschaftlichen Ressourcen angesehen wird. Seine alleinige Autorität wurde durch eine Aufteilung familiärer Verantwortungen und Entscheidungen ersetzt.“6 Im Bericht heißt es weiter, dass sich mit der Verbreitung von Bildung und dem Rückgang der Analphabetenrate auch das Modell der Kernfamilie durchgesetzt habe, „was wiederum einen historischen Prozess vorantrieb, in dessen Rahmen sich der Wunsch nach Eigenständigkeit beziehungsweise Befreiung von gesellschaftlichen und familiären Zwängen, die die Eigenständigkeit hemmten, herausbildete“.

Dieser Realität will sich die konservativ-islamische Front widersetzen. Um den täglichen Kampf der Tunesierinnen gegen das alte patriarchalische System zu untergraben und ihre religiös-gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, scheuen sie nicht davor zurück, sich auf ein ideologisches System aus dem Mittelalter zu berufen. Die Gegner der Gleichstellung  in Erbschaftsfragen setzen auf das Scheitern des Gesetzesentwurfs im Parlament mithilfe der Ennahda-Bewegung und „ihrer konservativen Freunde“ und indem sie durch den Appell an religiöse Empfindungen die Öffentlichkeit für ihre Ideologie mobilisieren.

  • 1. Shukri Mabkhout, Ideengeschichte Tunesiens, März 2018.
  • 2. Amel al-Hilali, „Sie zu wählen ist haram“ Sheikhs in Tunis erheben sich gegen Befürworter der Gleichberechtigung im Erbe. Al-Jazeera Online, 19. Dezember 2018.
  • 3. Fathi Al Qasimi, Drei Bücher in Antwort auf Haddad, Ibn Siraj Verlag, 2014.
  • 4. Sadok Belaïd, Koran und Gesetzgebung: Eine neue Lesart der verordnenden Verse, Tunesien, Centre de Publication Universitaire.
  • 5. Mansour Fahmi, Die Bedingungen für Frauen im Islam, al-Kamel Verlag, 1997.
  • 6. Bericht der Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichberechtigung, Juni 2018.