Cheikha Kharboucha: Die Aita Dichtung als Waffe gegen Tyrannei

Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.

„Welche Rolle spielen Cheikhates heute noch? Auch ohne die Fakten und Gründe zu wiederholen, die schon vielfach genannt wurden, ist festzustellen, dass die Cheikhates ein bedeutender Teil unserer mündlich überlieferten Kulturtradition sind. Dennoch schlägt ihnen oft Ablehnung entgegen. Sie auf goldene Zähne, runde Hüften und robuste Körper, bestickte Kleider und Kaftane zu reduzieren würde ihnen nicht gerecht werden; sie sind die kollektive Stimme der marokkanischen Regionen Chaouia, Abda und Doukkala. Vielmehr noch: Sie sind das Marokko von gestern, das Marokko des Makhzen und des Feudalismus, der Paschas und Würdenträger. Auch wenn einige von ihnen bereits gestorben und andere sehr alt sind, so beruft sich ihre neue Generation noch immer auf dasselbe Erbe […]. Es ist wahr, dass ihr Leben von Perspektivlosigkeit geprägt ist – so war es damals und so ist es noch heute. Dennoch ist ihre Präsenz im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft, wie divers sie in Sprache und Kunst auch sein mag, verankert.“ – Driss El Khouri, Schriftstellerundefined

Kharboucha, Hadda Zaydiya oder Hwida: All dies sind Namen für eine Frau, die als Ikone der marokkanischen Aita‑Dichtung gilt. In einigen Teilen Marokkos wird die tragische Geschichte der Cheikha wie ein Mythos von Generation zu Generation weitergegeben und ihre Lieder werden bis heute originalgetreu interpretiert. Unter einer Cheikha versteht man in Marokko eine Sängerin und/oder Tänzerin und bisweilen auch eine Musikerin.

Das männliche Pendant zur Bezeichnung „Cheikha“ – oder Plural „Cheikhates“ – ist „Cheikh“, wobei sie alle nichts mit den „Scheichs“ des Nahen Ostens zu tun haben. Dort verweist der Titel auf einen bestimmten religiösen, familiären oder gesellschaftlichen Status. Auch in Algerien und Tunesien finden sich „Cheikhates“ im Kontext von Kunst und Kultur, wobei die meisten Algerier*innen die Bezeichnung „Uzriyat“ bevorzugen und in Tunesien vorrangig der Begriff „Mashitat“ verwendet wird.

Ihr Leben verbrachte Cheikha Kharboucha in Abda, einer Region im Südwesten Marokkos, die einst von den arabischen Stämmen der Maqil besiedelt wurde. Sie lebte nahe der Stadt Safi – der „Metropole des Ozeans“, wie Ibn Khaldun sie nannte. Als Kharbouchas Stamm, die Oulad Zayd, sich im späten 19. Jahrhundert gegen die Tyrannei des Gouverneurs von Abda auflehnte, schloss auch sie sich dem Kampf an. Ihre Waffe: Aita. Aita ist eine sehr beliebte Kunstform in Marokko. Hassan Najmi, Schriftsteller, Dichter und einer der wichtigsten Forscher zur Geschichte dieser Dichtung, definiert Aita in seinem Buch Der Aita‑Gesang: Mündlich überlieferte Dichtung und traditionelle Musik in Marokko als einen „aus dem ländlichen Raum stammenden, mündlich im Aroubi‑Dialekt [dem lokalen Dialekt von Doukkala-Abda und anderer Gegenden] überlieferten Gesang  zu traditioneller Musik, der eine große Vielfalt an Formen, Tonarten und Bedeutungen aufweist. Er entstammt einer von Sehnsucht erfüllten Seele, die unter der Last von Entwurzelung, Verlust und unbekannten Enttäuschungen leidet.“undefined

Doch Najmi, der diesem Thema seine Doktorarbeit gewidmet hat, geht in seiner Definition der Aita‑Kunst noch weiter. So beschreibt er Aita als einen „heißen Atem, der über die Stimmen von Männern und Frauen und über fesselnde Rhythmen und Melodien an die Oberfläche steigt. Er leitet die Geburt einer mündlichen Dichtung ein, die sich gleich einer starken Blutung aus den Wunden Einzelner auf Gruppen ergießt. Aita ist eng mit den Leben und Schicksalen von Bauern, Farmern und Hirten sowie der ländlichen Bevölkerung im Allgemeinen verknüpft; einer Bevölkerung, die ein altes kollektives Gedächtnis bewahrt und von arabischen Familien mit einer lange ignorierten, unterdrückten und stillen Geschichte abstammt.“undefined

In ihrer einfachsten Definition ist Aita ein Wort der arabischen Umgangssprache mit der Bedeutung „Schrei“. So erhob Cheikha Kharboucha ihre Stimme zum Schrei angesichts der Tyrannei jenes Gouverneurs, Aissa Ben Omar – und das in einer Zeit, in der die Macht der Herrscher Marokkos absolut war und sie über Leben und Tod, über das Schicksal von Mensch, Baum und Stein entschieden. Ihr Schrei blieb nicht ungehört: Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich ihre Gedichte und Lieder unter den Angehörigen ihres Stammes und der benachbarten Stämme. Sie machten den gefürchteten Herrscher Omar, dessen Name allein die Menschen erzittern ließ, zum Gegenstand von Hohn und Spott.

 

Jede Revolution beginnt mit Ungerechtigkeit

Im Marokko des 19. Jahrhunderts herrschten Armut, Hunger und die Unterdrückung durch den Makhzen, wie in Marokko die Regierung und herrschende Klasse umgangssprachlich genannt werden. In jener Zeit erlebte das Land zahlreiche Aufstände, darunter auch den von Kharbouchas Stamm Oulad Zayd gegen den Gouverneur Aissa Ben Omar. Der aus Abda stammende Omar gilt heute als einer der größten Herrscher in der Geschichte Marokkos. Unter Sultan Abdelaziz wurde er zum Gouverneur der Region Abda ernannt, in der er sich durch seine Härte und Grausamkeit einen Namen machte. Mit eben dieser Härte schlugen Omars Streitkräfte in der Mitte des Jahres 1895 auch den Aufstand der Oulad Zayd nieder. Die grausamen Geschehnisse geben diesem Jahr den Beinamen „el‑Rafsa“ (des Huftritts). Die Gewaltherrschaft Omars dokumentierte auch der Historiker Ahmed Ben Muhammed el‑Sabihi bel‑Hujjaj Ben Youssef el‑Thaqafi in seinem Buch Die Gräueltaten des Aissa Ben Omar.

Als Reaktion auf die Finanzkrise, die Marokko zu jener Zeit plagte und die den Weg für die Invasion der Kolonialkräfte einige Jahre später ebnete, führte der Makhzen höhere Steuern ein, die zur wesentlichen Einnahmequelle für die bankrotte Staatskasse wurden. Doch die Willkür, Gewalt und Gesetzlosigkeit, mit der die Gouverneure (beziehungsweise ihre Vertreter) bei der Steuereintreibung häufig vorgingen, entzündeten Aufstände in den Regionen Rehamna, Doukkala und Abda, einschließlich den der Oulad Zayd.

Kharboucha unterstützte den Kampf ihres Stammes mit ihrer scharfen Zunge und befeuerte ihre Stammesbrüder, sich gegen Aissa Ben Omars Tyrannei und Hochmut zur Wehr zu setzen. Sie schreckte nicht davor zurück, Omar in ihren Texten aufs Heftigste zu erniedrigen und zu verunglimpfen. So sprach sie ihn in einem Gedicht mit dem Titel Al‑Ayyam (Die Tage)undefined  mit der verniedlichenden Form „Aissachen“ an, bezichtigte ihn, Aas zu fressen und warf ihm Brudermord, Unterdrückung und Willkür vor. Mit tiefen Seufzern, die in der arabischen Dichtung und besonders in der Aita‑Dichtung eine lange Tradition haben, trug sie diese Worte vor und verlieh so dem Schmerz und der Wut ihres Stammes wirkungsvoll Ausdruck.

In der arabischen Geschichte sind es vor allem die Frauen aus der Dschahiliyaundefined  und der Entstehungszeit des Islam, die für ihre Einsatzbereitschaft in Kriegen und ihre Fähigkeit, den Ehrgeiz der Männer zu wecken, bekannt sind. Die Verkörperung dieses Bildes schlechthin ist Hind bint Utba.undefined  Doch auch die Frauen Marokkos schworen den Kampfesgeist ihrer Männer herauf, damit diese ihre Ehre und ihren Besitz, vor allem aber auch sie selbst, die sich von Gefangenschaft, Ausbeutung und Demütigung bedroht sahen, auf Leben und Tod verteidigten.

Kharboucha erreichte mit ihren provokanten Angriffen auf Aissa Ben Omar, den sie als verabscheuungswürdigen Despoten charakterisierte, einen Status wie keine Cheikha vor ihr und wurde so zur Ikone der Aita‑Kunst. In Marokko wird sie bis heute mit Widerstand, Aufopferung und Freiheit assoziiert.

Ein intensiverer Blick auf die Cheikhates offenbart eine Institution, die tief in ländlichen, ursprünglich aroubischen Gesellschaften verankert ist; eine Institution, die ihr eigenes System, einzigartige Bräuche und professionelle Kunsttraditionen besitzt und nach wie vor Relevanz für die Ausrichtung bedeutender Feste wie Hochzeiten hat. Die Ethnologin Viviane Lièvre beschreibt die Cheikhates in ihrem Buch Danses du Maghreb (Tänze des Maghreb) als professionelle Tänzerinnen, Sängerinnen und freie Frauen.undefined

 

Ein unbekanntes Ende

Doch Freiheit hat ihren Preis, und so musste Cheikha Kharboucha ihre dichterische Rebellion und politische Provokation am Ende teuer bezahlen. Mehr als ein halbes Jahr lang erlebte sie den durchweg blutigen Kampf, der zwischen ihrem Stamm und Aissa Ben Omar tobte. Die große Beliebtheit ihrer Verse unter den Stämmen der Region konnte von Omar, dem die Macht und Gefahr solch mündlicher Überlieferungen sicherlich bewusst waren, nicht ignoriert werden. Als den Oulad Zayd die Munition ausging, schlug er den Aufstand nieder und nahm Kharboucha neben 800 weiteren Stammesangehörigen fest. Alle wurden Opfer von Gewalt und Folter.

Das Schicksal Kharbouchas nach ihrer Festnahme liegt im Dunkeln. Es kursieren widersprüchliche Aussagen darüber. Einige Überlieferungen deuten darauf hin, dass Omar ihr aus Rache für seinen verletzten Stolz die Zunge herausschneiden ließ. Eine andere besagt, dass Kharboucha gemeinsam mit ihrem Geliebten fliehen konnte, sie jedoch von Handlangern des Makhzen gefasst und zum Sultan in Rabat geschickt wurde, wo sie vor Omar und der drohenden Gewaltstrafe sicher sein würde. Doch die Spione Omars hätten sie auf dem Weg dorthin beobachtet, entführt und schließlich getötet.

Wie auch immer Kharboucha zu Tode kam, ihr Schicksal verfolgte den Gouverneur Aissa Ben Omar wie ein Fluch: Nur wenige Jahre später wurde er auf einen Befehl des Sultans hin verhaftet, ins Gefängnis gesteckt und all seines Eigentums beraubt.

Trotz seines tyrannischen und gewalttätigen Charakters war Aissa Ben Omar auch bekannt für seine Geselligkeit und seine Leidenschaft für die Aita-Kunst und galt als Förderer dieses traditionellen Gesangs. In seiner Kasbah (Festung) wurden Aita-Verse ersonnen und vorgetragen, und die Zahl der Cheikhates und Cheikhs wuchs unter seiner Herrschaft. Als Kunst mit großer gesellschaftlicher und oft auch politischer Bedeutung rückte die Aita‑Dichtung immer wieder ins Blickfeld der Machthabenden, die sie instrumentalisieren und ihrem eigenen Narrativ anpassen wollten. So geschah es auch im Fall von Cheikha Kharboucha, die es allerdings ablehnte, sich Aissa Ben Omar zu beugen. Ihr Schicksal, ähnlich dem der großen griechischen Dichter Homer und Aeschylus, wurde damit zur Legende.

  • undefined a b c d e f g Dieser Ausschnitt stammt aus einem Artikel von Driss El Khouri mit dem Titel „Über Aita und Pferdesport“, erschienen in El Ittihad El Ishtiraki [Die sozialistische Union], Marokko, 22. April 1995, Seite 5.

Noor el-Huda Bouadjadj

نور الهدى بوعجاج صحافيّة مغربيّة، خرّيجة المعهد العالي للإعلام والاتّصال، حاصلة على ماجستير في التواصل السياسيّ وتشتغل في الصحافة الإلكترونيّة منذ أربع سنوات.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Unformatierter Text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.