Maskulinität in der Diaspora ver/lernen

Als jemand, der seit seiner Kindheit in verschiedenen Städten in Europa – insbesondere in Vierteln mit starker westasiatischer Diaspora-Präsenz – aufgewachsen ist, muss ich feststellen, dass die Sphäre der Maskulinität, in der ich mich am meisten bewege, die meiner eigenen Kulturen ist.

Übersetzung von Elisabeth Meister

Ich bin ein in der Diaspora geborener und aufgewachsener westasiatischer Autor. Aus diesem Grund habe ich mich daran gewöhnt, Dutzende von Artikeln zu lesen, die den „Konflikt zwischen zwei Welten“ in der Diaspora untersuchen, speziell zwischen dem „Nahen Osten"1  und „dem Westen“. Zwar können diese Texte einen gewissen Einblick in die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Welten bieten, viele transportieren jedoch den Irrglauben, dass es sich hierbei um zwei völlig getrennte Kulturräume handelt, und vernachlässigen das Erbe des Kolonialismus und die komplexe Migrationsgeschichte, die diese Räume seit Jahrhunderten miteinander verbinden. Wie haben sich diese Wechselbeziehungen individuell wie kollektiv auf die Diaspora-Identität ausgewirkt? Eine Analyse der Männlichkeit in der westasiatischen Diaspora kann eine nützliche Perspektive bieten, aus der sich einige dieser Fragen detaillierter untersuchen lassen. Ich tue dies hier mit Bezug auf meine eigenen Erfahrungen.

Nachdem ich im Alter von sechzehn Jahren meine Sexualität akzeptiert hatte, glaubte ich, ich hätte mir damit die Frage, wer ich gemäß der gesellschaftlichen Zuschreibungen war, ausreichend beantwortet: ein junger, schwuler, effeminierter Mann. Doch damit lag ich falsch. Erst später wurde mir bewusst, dass ich zu diesem Zeitpunkt lediglich an der Oberfläche gekratzt hatte. Bis ich achtzehn Jahre alt war, glaubte ich, ich sei ein Cisgender-Mann. Dies bedeutete, dass ich mich an die Maskulinitätsstandards hielt, die ich bei den Männern in meiner Familie beobachtete, ohne sie zu hinterfragen. Diesen sehr rigiden Verhaltenskodex zu befolgen, fiel mir zwar zunehmend schwer, doch ein aufkommendes Unbehagen deswegen unterdrückte ich zunächst. Erst als ich in Kontakt mit der Drag-Kultur kam, begann ich meine geschlechtliche Identität kritisch infrage zu stellen. Nicht der kommerzielle, hyperfeminine Drag von RuPaul und der zugehörigen toxischen Fangemeinde, sondern vielmehr die wunderbar unvollkommene Drag-Kultur der realen Welt, welche die Geschlechterbinarität verschwimmen lässt, um etablierte Machtdynamiken infrage zu stellen, statt profitable Marken zu schaffen. Ich sah gerne dabei zu, wie begnadete Interpret*innen genau die Regeln der Maskulinität unterliefen, die ich mir selbst auferlegt hatte, indem sie mit viel Rhythmusgefühl und Talent auf der Bühne tanzten und zum Playback sangen.

Mir wurde nach und nach klar, dass sich mein geschlechtsspezifisches Erscheinungsbild auf einen Trenchcoat mit Jeans und Stiefeln beschränkt hatte, und ich verspürte das Verlangen, meinen Horizont über diese sehr begrenzte Performance von Maskulinität hinaus zu erweitern und auszukundschaften. So begann ich, Artikel und Bücher von radikalen queeren Denker*innen zu lesen, um Gender-Konstruktionen und die dazugehörige Politik besser zu verstehen. Das wiederum veranlasste mich dazu, die Communities aufzusuchen, in denen ich meine eigenen Schwierigkeiten kontextualisieren und die Schwierigkeiten anderer verstehen lernen konnte. Dies führte auch dazu, dass ich anfing, mit Kleidungsstücken und Stoffen zu experimentieren, die als „feminin“ vermarktet wurden. Beim Ausgehen trug ich nun Schmuck und Makeup und ich gewöhnte mir an, mich bezogen auf Gender-Zuschreibungen fließender zu artikulieren. Diese kleinen Experimente stärkten mein Selbstbewusstsein, und ich distanzierte mich Stück für Stück von denen, die eine heterosexuelle und/oder Cisgender-Identität in ihrem Leben unkritisch als Norm übernahmen; darunter auch alte Mitbewohner*innen und Freund*innen aus Studientagen. Ich war glücklich und ich erlebte zum ersten Mal, was es bedeutete, mich in meiner eigenen Haut wirklich wohlzufühlen.

Wie bei jedem Widerstand war dieser euphorische Zustand jedoch weder mein einziger noch mein Dauerzustand. Die Angst vor körperlichen Belästigungen oder Angriffen saß und sitzt nach wie vor tief. Ich befinde mich ständig in einem Zustand, der sich mit „Kampf oder Flucht“ betiteln lässt. Das fortwährende Bedürfnis nach Diskretion, um den Erwartungen meiner Familie gerecht zu werden, verunsichert mich nach wie vor. Dennoch bedeutet das nicht, dass mein Gefühl der Unsicherheit einzig und allein von meiner Familie oder der Diaspora-Community verursacht wird. Wenn dieses Gefühl der Unsicherheit auf ein überwältigendes Maß ansteigt – etwa wenn ich nachts alleine nach Hause fahre oder wenn mich die Furcht überkommt, vor Familienmitgliedern und anderen in unserer Community online „geoutet“ zu werden –, dann versuche ich daran zu denken, dass die Entscheidungen, die ich treffe, um mich außerhalb der gesellschaftlichen Erwartungen von Maskulinität zu definieren, auf jeden Fall Respekt verdienen. Auch wenn sie vielleicht nicht von allen Personen um mich herum geteilt werden. Allerdings ist Respekt eine komplexe und inkonsistente Erfahrung. Wenn ich mich sicher fühle, ist mir beispielsweise nur allzu bewusst, dass dies daran liegt, dass die Menschen um mich herum mir erlauben, mich so zu fühlen – als könnten sie jeden Moment versuchen, mir das wieder wegzunehmen. Wirklich und wahrhaftig Respekt zu verspüren bedeutet für mich, zu wissen, dass dieses Gefühl der Sicherheit nie infrage gestellt oder zurückgenommen werden kann.

 

Wie wird kommt die westasiatische Maskulinität in der Diaspora geformt?

Diese Spannung zwischen Selbstermächtigung und Handlungsspielraum, die ich aus meinem genderspezifischen Gestus beziehe, sowie die daraus resultierende Unsicherheit und extreme Sichtbarkeit zwingen mich geradezu, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was Männlichkeit für die Menschen um mich herum bedeutet, seien es meine Familie oder die Fremden, die mir im öffentlichen Raum begegnen.

Ich frage mich also, wie Maskulinität im Leben von Männern in der Diaspora verankert ist.

Wie viele andere soziale Konstrukte ist auch Maskulinität in der Diaspora mit der nationalen und ethnischen Identität verflochten. Sie ist untrennbar mit unserem imaginären Gefühl des (Nicht-)Dazugehörens und unseren komplexen Verbindungen zur „Heimat“ verbunden. Wenn wir uns in rassistischen und eurozentrischen Gesellschaften bewegen, stützen sich die Bezugspunkte unserer Identität auf unser kulturelles Erbe. So mildern wir die Ablehnung, die wir in unserem Umfeld möglicherweise erfahren. Wir betonen die Werte der Herkunftsländer unserer Eltern, um uns akzeptiert zu fühlen. Wir, die Kinder von Eingewanderten, die sich weit weg von „Zuhause“ fühlen, versuchen durch die Übernahme dieser Werte verzweifelt, das Gefühlt der Fremde zu kompensieren.

Ein Weg zum Verständnis von Maskulinität in der Diaspora liegt also darin, zu begreifen, wie sie sich im und durch den Rassismus manifestiert und manifestiert wird. Ich erinnere mich an einen Text von William Safran, der behauptete, Araber*innen seien aufgrund „unterschiedlicher Weltanschauungen“2  nicht in der Lage, sich in die französische Gesellschaft zu integrieren. Ich würde ganz im Gegenteil argumentieren, dass die arabische Nichtintegration ein Resultat davon ist, wie Identitäten in westlichen Kontexten als Waffe eingesetzt werden, um mit denen der Diaspora- und Einwanderungserfahrung als unvereinbar präsentiert zu werden. Wir sehen dies am Versuch westlicher Nationen, sich selbst so darzustellen, als hätten nur sie Verständnis und Toleranz für sexuelle und geschlechtliche Diversität. Dies erlaubt ihnen, die „Anderen“ zunächst zu identifizieren und dann auszuschließen. Im Wesentlichen machen sie sich eine Rhetorik der Toleranz zu eigen, die es ihnen erlaubt, Araber*innen als die „Anderen“, die „Nicht-Toleranten“ darzustellen. Westliche Instanzen übernehmen also den Diskurs der Vielfalt und Toleranz, den Jasbir Puar als „Homonationalismus“3  bezeichnet, indem sie die Akzeptanz der sexuellen und geschlechtlichen Identitätenvielfalt mit den Erfolgen des Nationalstaats verbinden. Damit versuchen sie, sich als anderen Nationen überlegen zu definieren, die sie als weniger tolerant darstellen. Gleichzeitig spielen sie ihre eigene Diskriminierung und Gewalt gegen die LGBT-Community herunter. Im Bestreben, das „Rosa Geld“ („pink pound“) abzuschöpfen, kommerzialisiert der Westen auf dieselbe Weise Sexualität und geschlechtliche Identität. LGBT-Identität wird zu einem ökonomischem Gut, einem Geschäftsinteresse, in dem zahlreiche Marken und Firmen um des gesteigerten Profits willen eine angebliche Akzeptanz von Vielfalt vorgaukeln. Im Verlauf dieser Prozesse wird am „Othering“ von Araber*innen und verschiedenen anderen Gruppen festgehalten, ohne dass die lange Geschichte der Besetzung, Gewalt und Ausbeutung, welche die wechselseitige Beziehung mit Westasien und anderen postkolonialen Regionen kennzeichnet, thematisiert wird. Ebenfalls unerwähnt bleiben die Interessenvertretung und Eigenverantwortung, für die sich die einheimischen LGBT- und Frauenrechtsorganisationen in Westasien selbst einsetzen. Stattdessen verfestigt sich der Eindruck, dass der Westen und seine Diaspora aufgeklärt und tolerant sind, während die Region Westasien und ihre Diasporas unterdrückt und damit intolerant sind.

Durch die Ablehnung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt beanspruchen westasiatische Männer in der Diaspora Handlungsmacht gegenüber einem System, das sie selbst ablehnt.

Die Maskulinität der westasiatischen Diaspora sieht sich somit in der Situation, mit diesen konstruierten Binaritäten umgehen zu müssen. Sie steht vor dem Dilemma, sich auf die eine oder andere Seite schlagen zu müssen beim eingangs erwähnten „Konflikt zwischen zwei Welten“. Von daher bietet die Entscheidung, die westliche Deklarierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt abzulehnen, vielen westasiatischen Männern in der Diaspora die Gelegenheit, gegenüber einem System Handlungsmacht und Unabhängigkeit zu beanspruchen, von dem sie auf ähnliche Weise abgelehnt werden.

Ich erinnere mich, wie mein Cousin und seine Freunde in meinen frühen Teenagerjahren eine von vielen Begegnungen mit einem rassistischen Türsteher am Eingang eines Clubs in einer europäischen Stadt erlebten. Offenbar wurde ihnen gesagt, dass dies „kein Club für sie“ sei. Als ich meinen Cousin nach dem Namen des Clubs fragte, antwortete er, das spiele keine Rolle, sie seien „sowieso“ alle voll mit „denselben Wichtigtuern, Besoffenen und effeminierten Clowns“. Es überrascht nicht, dass diese Zurückweisung dazu führte, dass sie nie wieder zum Clubben in die betreffenden Viertel zurückkehrten. Stattdessen fuhren sie in die noch nicht gentrifizierte Vorstadt, insbesondere in Stadtteile mit vorwiegend türkischen, arabischen, afrikanischen und karibischen Einwohner*innen, wo sie sich eher wohl und akzeptiert fühlten. Die Ablehnung generierte den Wunsch, wieder unter „ihren eigenen Leuten“ zu sein, wo „effeminierte Clowns“ sie nicht zurückweisen konnten, weil es sie gar nicht erst geben sollte.

Klar muss jedoch sein: Auch wenn westasiatische Männer in der Diaspora eine Rassifizierung erleben, die dann zu dieser reaktiven Maskulinität führt, darf dies keine Rechtfertigung für eine diskriminierende Behandlung von Frauen und LGBTQIA+-Individuen sein, die genauso mit toxischen Hierarchien und als Waffen eingesetzten Identitäten zu kämpfen haben. Unsere Körper sind keine Arenen für Männer, in denen sie ihre Machtverunsicherungen ausleben können, und Männer müssen daran arbeiten, die schädliche Macht ihrer Reaktionen zu erkennen. Und zwar schnell.

Der Teufelskreis von rassistischer Ausgrenzung, den ich hier beschreibe, hält an. Aber queere und Trans*-Stimmen in der westasiatischen Diaspora formulieren Widerstand dagegen, sowohl in der Gruppe der neu Eingewanderten als auch in der zweiten Generation. Wir tasten uns gemeinschaftlich voran, weil wir unseren Platz weder im kooptierten Queersein finden, das wir im Westen als Waffe eingesetzt sehen, noch in der reaktiven Maskulinität, die wir in unseren Diaspora-Communitys erleben. Wir befinden uns auch nicht in einem Bereich zwischen beiden Phänomenen, sondern vielmehr jenseits davon. Unsere Existenz fordert den Kalten Krieg der Ideologien heraus, der von Nationalismus, Heteropatriarchat und Kapitalismus gefördert wird. Stattdessen schaffen wir uns unsere eigenen Räume, die von diesen nationalistischen Gesinnungen und männlichen Komplexen (weitgehend) frei sind, und entscheiden uns dafür, unsere Identität als genau das zu nehmen, was sie ist: eine undefinierte Aktion statt einer rigiden Reaktion. Im Zuge dessen werden wir von verschiedenen Teilen der Gesellschaft nur allzu leicht ausgegrenzt und verfälscht dargestellt, weil wir uns gegen das Etikett des weißen Queerseins ebenso wehren wie gegen die Zwänge der westasiatischen Maskulinität. 

 

  • 1Ich benutze den Begriff „Naher Osten“ hier in Anführungszeichen, um seine konstruierte und koloniale Vergangenheit zu markieren, die unglücklicherweise in die Bezeichnung unserer gegenwärtigen Realitäten eingeflossen ist – wir sollten nie vergessen, zu fragen: „Wessen Osten sind wir nahe?“ Für den Rest dieses Artikels wähle ich stattdessen bewusst den Begriff „westasiatisch“, in der Absicht, dieses koloniale Erbe mit ein paar geografischen Fakten zu subvertieren.
  • 2Safran, W., 1991. „Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return“ [Die Diaspora in modernen Gesellschaften: Mythen von Heimat und Rückkehr]. Diaspora: A Journal of Transnational Studies Band 1, Nr. 1, 83-99.
  • 3Puar, J., 2017. „Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times“ [Terroristische Versammlungen: Homonationalismus in queeren Zeiten]. Duke University Press: North Carolina.

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