Wir haben das Recht zu Fluchen – was hindert uns?

Eine Frau flucht nicht: Das hat Lubna schon als Kind gelernt. Lange Zeit verband sie mit Schimpfwörtern Scham und Angst, bis sie in ihnen eines Tages eine Möglichkeit sah, sich von der Kontrolle des Patriarchats über ihre Sprache und ihren Körper zu befreien.

Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.

Vor wenigen Monaten kehrte ich nach Jahren der Abwesenheit wieder nach Kairo zurück. Die ersten Stunden verbrachte ich am Flughafen, wo ich erst einmal herausfinden musste, wie und wo ich meine Pakete finden konnte, die ich nach Ägypten mitgebracht hatte. Da war er wieder, der bizarre Widerspruch, der mich immer schon in meinem Land begleitet hatte: die Unmöglichkeit einerseits, sich den Blicken der anderen zu entziehen, und andererseits die Schwierigkeit, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Man sah mich, starrte mich an und musterte mich von oben bis unten, doch als ich den Mund aufmachte, hörte mir niemand zu. Ich äußerte mein Anliegen und erhielt eine Antwort, die überhaupt nichts damit zu tun hatte: „Wie komme ich an meine Sachen?“ – „Steh doch nicht so da! Hier sind viele Männer…“ Nach Stunden und zahlreichen vergeblichen Versuchen rief ich einen Freund an – einen Mann – und bat ihn zu kommen. Als er da war, nutzte er genau meine Worte, aber er sprach mit lauterer Stimme und in härterem Tonfall, und plötzlich war man bereit, zu helfen. Der Vorfall beschäftigte mich noch tagelang. Als ich mit einer Freundin darüber sprach, meinte sie ich hätte viel zu ruhig und leise gesprochen, ich hätte schimpfen und fluchen müssen, „wie die Männer“, um mir Gehör zu verschaffen.

Eigentlich fluche ich, und zwar recht viel, jedoch auf Englisch. Da ich Englisch erst als Heranwachsende gelernt habe, ist es für mich eine Art „neutrale“ Sprache; ich verbinde damit keine persönlichen Erinnerungen oder Emotionen. Arabische Schimpfwörter machen mich wütend und verletzen mich. Englische Schimpfwörter schaffen das nicht. Das Gespräch mit der Freundin kam mir auch wenige Tage danach wieder in den Sinn, als ich durch Facebook scrollte und mir auf ägyptischen Seiten eine Welle der Entrüstung entgegenschlug. Grund für diese Wut: das Werk der ägyptischen Künstlerin Sara Ayman. Sie hatte Ausdrücke auf ein Kleid genäht, die Frauen und Mädchen in Ägypten tagtäglich auf der Straße zu hören bekommen: „Haty bossa“ (Gib mir’n Kuss), „Kos om elli yzaalik“ (Ärgert dich wer, dann fick ich seine Mutter), „Taaban Nek“ (Bin müde vom Ficken) oder „Mazza“ (Appetithäppchen).

Viele Menschen, Männer wie Frauen, reagierten mit Ablehnung auf Aymans Kunststreich. Auch diejenigen, die Aymans Arbeit teilten, wurden in den sozialen Medien angegriffen. Lange las ich die Kommentare. Die meisten warnten davor, dass derlei Kunst eine Gefahr für Anstand und Sittsamkeit der Frauen sei, deshalb dürfe man sie nicht unterstützen. Ich musste darüber lachen. Was hat denn Anstand damit zu tun, Kritik an einer Realität, die Ägypterinnen jeden Tag durchleben müssen, zu äußern? Indem die Künstlerin Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenkte, wurde sie selbst beschuldigt und angegriffen. Dabei hatte sie niemanden beleidigt, sondern nur die Ausdrücke wiederholt, mit denen Männer Frauen auf offener Straße belästigen und terrorisieren! Ich fragte mich: Wieso finden Männer diese Beleidigungen auf dem Papier anstößig, kritisieren aber nicht die Anwendung der Beleidigungen zur Demütigung der Frau und ihrer äußeren Erscheinung?

Wie kann es sein, dass meine Vagina zum Symbol für Unreinheit und Makel geworden ist? Wie kommt es, dass mir der Begriff geraubt wurde und zum Eigentum des Mannes wurde?

Diese Polarität spiegelt sich in unserem Blick auf die Dinge wider: So erwarten Männer, bzw. Anhänger*innen des Patriarchats, dass sich Frauen höflicher und feiner als Männer benehmen, also nicht schreien oder gar fluchen, selbst wenn sie sich nur verteidigen. Freiheiten, die Männer genießen, werden Frauen nicht zugestanden. Sie verlangen von uns, nicht so zu sein wie sie. Und diese Widersinnigkeit lernen wir schon von klein auf zu akzeptieren.

In der Schule brachte uns die Lehrerin bei, dass anständige Mädchen nicht fluchen oder Ausdrücke verwenden, die ihre Ehre besudeln. Sie warnte uns davor, solchen Wörtern Aufmerksamkeit zu schenken oder nach ihrer Bedeutung zu fragen. Sollten wir die Bedeutung kennen, so sei es unbedingt notwendig, Ahnungslosigkeit vorzutäuschen. Natürlich betraf dies auch Wörter sexueller Natur. Ehemänner hätten das Recht, uns zu bestrafen, sollten sie den Verdacht haben, wir hatten uneheliches Vorwissen.

In den Klassenzimmern der Jungen lehrte man anderes, und so war auch der Umgangston ein anderer. Ich hörte, wie sie sich gegenseitig „Hurensohn“ nannten oder Witze über Sex rissen. Wenn ich mich den Jungen näherte, wurden sie still. Sie lachten, entschuldigten sich, dass ich das gehört hatte, und erinnerten mich daran, ignorant sein zu müssen, „weil du ein Mädchen bist“.

Ich aber wollte wissen, weshalb sie lachten. Ich wollte die verbotenen Witze verstehen. Als ich 15 war sprach ich einen Freund auf ein Wort an, das mir ein Passant an den Kopf geworfen hatte. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er werde mir das Wort auf keinen Fall erklären, sagte er mit Nachdruck und gratulierte mir anschließend für mein Unwissen - es sei Beweis meines Anstands. Es sei besser für mich, wenn er jetzt schweige, erklärte er weiter, um mich vor dem Einfluss dieses Worts zu schützen. Damals fand ich mich damit ab, aber mein Gefühl sagte mir, dass die Beleidigung sich gegen meinen Körper gerichtet hatte. Ich war wütend auf diesen Freund, weil er mir mein Recht auf Verstehen und Wut verwehrte.

In Ägypten beschreiben Schimpfwörter, die sich gegen Frauen richten, normalerweise unseren Körper, genauer gesagt unseren Intimbereich. Ich war verblüfft als ich all die Namen las, die es in meiner Muttersprache für die Vagina gibt: abo shafreen, el-ghalmoon, el-nawy, el-skuty, el-adhdhadh, abo tharthoor, el-fishfash, abo gabha, el-shaqq, el-masbool und das schlimmste: el-kuss.1  Wie kann es sein, dass meine Vagina zum Symbol für Unreinheit und Makel geworden ist? Wie kommt es, dass mir der Begriff geraubt wurde und zum Eigentum des Mannes wurde?

Ich leide darunter, viele Jahre lang Schimpfwörter mit meinem Körper assoziiert zu haben. Wie kann man eine gesunde Beziehung zu seinem Körper aufbauen, wenn man ihn nicht richtig benennen kann? Solche Defizite führen zu Selbsthass und Scham. In meinen Ohren ertönt das Wort „reclaim“ – zurückerobern oder zurückfordern. Indem ich diese Begriffe, die meinen Körper betreffen, von den Männern zurückfordere, kann ich die Kontrolle über meinen Körper bekommen und lernen, fair und korrekt über meinen Körper zu sprechen. Doch wie kann ich ein Wort in Besitz nehmen, das zuvor meinen Körper gedemütigt und verunglimpft hat; ein Wort, vor dem ich mich geradezu ekele? Woher kommt dieser Ekel? Ist das der Anstand, von dem alle reden? Ist es Angst? Oder Schamgefühl? Wieso schäme ich mich, wenn so ein Wort an mein Ohr dringt

Wir fürchten uns davor, zu fluchen, weil man uns mangelnden Anstand und Schamlosigkeit vorwerfen könnte.

Wenn ich an Schimpfwörter denke, kommt mir die ägyptisch-amerikanische Journalistin und Feministin Mona Eltahawy in den Sinn. Sie ist dafür bekannt, ständig zu fluchen. Eltahawy beginnt jedes Gespräch damit, sich vorzustellen und dann das Patriarchat in den wüstesten Tönen zu beschimpfen. Mir erschien ihr Verhalten früher befremdlich, aber auch beeindruckend. Einerseits war es mir zuwider, dass sie das Klischee der schimpfenden Feministin zu bestätigen schien. Gleichzeitig aber bewunderte ich ihren Mut und die Kraft ihrer Wut. Von diesem Zwiespalt konnte ich mich nicht lösen, bis ich eines Tages zu ihrem neusten Buch griff, The Seven Necessary Sins for Women and Girls (Sieben notwendige Sünden für Frauen und Mädchen).

In dem Kapitel über das Fluchen als politische und soziale Macht lenkt die Autorin die Aufmerksamkeit auf eine simple Tatsache: das Patriarchat kontrolliert unsere Sprache. Sie schreibt: „Diese Kontrolle wird in Form sozialer und gesellschaftlicher Regeln ausgeübt, die Frauen vermitteln, sie müssten sich der Welt als weniger machtvoll, selbstbewusst und ambitioniert präsentieren. Frauen lernen sich zu ducken, was sich implizit in zahlreichen Wörtern und Ausdrücken, die im Namen von Zivilisiertheit und Respektabilität geschaffen wurden, niederschlägt.“2 Uns wird gesagt „sei freundlicher, bescheidener und anmutiger und senke deine Stimme“, und schon findet diese Kontrolle ihren Weg in unser tiefstes Inneres. Wir verlangen von uns sogar das Unmögliche, zum Beispiel Gewalt und verbale Angriffe mit einem Lächeln zu ertragen. Wir fürchten uns davor, zu fluchen, weil man uns mangelnden Anstand und Ungehörigkeit vorwerfen könnte.

Eltahawy nimmt auf ein Konzept der Harvard-Professorin Evelyn Brooks Higginbotham Bezug, die sogenannte „Politik der Respektabilität“.3 Es beschreibt einen moralisierenden Diskurs, den marginalisierte Gruppen von der Mehrheitsgesellschaft übernehmen, um so im Gegenzug Meinungsfreiheit und andere Rechte einfordern zu können.4 In meinem Fall bin ich es, die als Frau die Vorstellungen und Erwartungen der dominanten Gesellschaft von mir als „anständiges Mädchen“ adaptiert: Ich spreche sanftmütig und leise, fluche nicht und bin beschämt – nicht etwa wütend – wenn ich ein Schimpfwort höre, selbst wenn es sich gegen mich und meinen Körper richtet.

Nachdem ich Eltahawys Buch gelesen hatte, fühlte ich mich stark durch die Kraft der neu erworbenen Erkenntnisse über mich selbst. Der Zwiespalt und die Abneigung, die ich zuvor verspürt hatte, waren in Wirklichkeit meine Angst davor gewesen, diese Worte zurückzufordern. Diese Schimpfwörter, wie Eltahawy schreibt, sind eine verbale Form des Ungehorsams.5 Ungehorsam zu sein heißt, die Wirklichkeit abzulehnen, mit der wir unzufrieden sind. Ich lehne es ab, unsichtbar zu sein, und ich widersetze mich den Waffen des Anstands, die mich zwingen wollen, zu kauern, still zu sein und mich meiner Umwelt zu unterwerfen, bis ich mich in ihr auflöse oder völlig verschwinde.

Die wahre Anstandslosigkeit ist die Demütigung meines Körpers. Mein Körper ist kein Schimpfwort für Männer. Ich lehne es ab, dass sie ein Wort benutzen, das mir und mir ganz allein gehört. Es ist mein Recht, über meinen Körper zu sprechen, ohne Scham und Enttäuschung zu verspüren. Es ist mein Recht zu reden, wie ich es mag, leise oder laut. Ich schließe mich Mona Eltahawy an, wenn sie sich mit klarer Stimme gegen diese Hegemonie stellt: „Ich lehne es ab, denjenigen mit Anstand zu begegnen, die es ablehnen, mich als Mensch zu respektieren.“6

Ich weiß heute, dass vor mir noch ein weiter Weg liegt, nachdem ich es all die Jahre nicht gewagt habe, meine Stimme zu erheben. Und doch bin ich überzeugt, dass ich diese Begriffe, die meinen Körper beschreiben, zurückerobern kann - vielleicht nicht heute, aber eines Tages.

  • 1. 1. Diese Bezeichnungen sind nur einige von über dreißig Bezeichnungen für die Vagina. Sie stammen aus Abo Abdallah Mohammad an-Nafzawis „Ehehandbuch“ mit Namen Der parfümierte Garten. Anm. d. Übersetzerin: Eine wortwörtliche Übersetzung ist bei den meisten der Begriffe nicht möglich. Zum Teil bezeichnen sie zugeschriebene Eigenschaften, z.B. „el-skuty“ (das Stille) oder „el-adhdhadh“ (das sich Verengende); „abo shafreen“ bedeutet „Vater der zwei Schamlippen“ und „el-fishfash“ vergleicht die Vagina mit einem Gericht aus Tierlunge. Die Wörter „el-shaqq“ und „el-kuss“ entsprechen in etwa den abwertenden deutschen Bezeichnungen „Ritze“ und „Muschi“.
  • 2. Mona Eltahawy, The Seven Necessary Sins for Women and Girls, UK 2019, 57.
  • 3. 3. Das Konzept der „Politics of Respectability“, oder Respektabilitätspolitik, bezieht sich auf verschiedene Formen moralisierender Rhetorik, die Wortführer marginalisierter Gesellschaftsgruppen innerhalb ihrer Gemeinschaften verwenden. Es entstand im Kontext US-amerikanischer Geschichte, wo die „Politik der Respektabilität“ als Druckmittel gegen afroamerikanische Gemeinschaften eingesetzt wurde, damit diese gewisse soziale Praktiken unter dem Vorwand der Inkompatibilität mit mehrheitsgesellschaftlichen Werten und Moralvorstellungen aufgaben.
  • 4. Mona Eltahawy, The Seven Necessary Sins for Women and Girls, 74.
  • 5. Ibid., 59.
  • 6. Ibid., 58.