Aus dem Arabischen übersetzt von Jana Duman.
Heimat, ist das ein Ort voller Erinnerungen? Ist es ein intensives Gefühl? Sind es Menschen, die wir lieben? Ist die Bedeutung von Heimat immer dieselbe? Oder wandelt sie sich im Laufe der Zeit und passt sich den jeweiligen Situationen an? Die syrische Zeichnerin Sara Khayyat verließ Syrien 2015, nachdem die Gewalt dort eskaliert war. In ihren Bildern spiegelt sich die Suche nach Antworten auf diese Fragen und nach einer neuen Heimat wider.
Immer wenn ich an den Flughafen dachte, stellte ich mir ein Portal vor, hinter dem sich ein besseres Leben für mich auftun würde – ein Leben, von dem ich träumte - an einen neuen Ort, mit neuen Chancen. Aber an jenem Tag im März verwandelte sich dieser Traum innerhalb eines Augenblicks in einen Albtraum. Auf einmal blieb mir als Heimat nur noch meine Decke, unter der ich mich vor all der Scheußlichkeit versteckte, die mich in diesem Gefängnis umgab.
Wegen der Corona-Pandemie waren alle Menschen irgendwo eingesperrt. Ich jedoch war eine Gefangene im doppelten Sinne: einerseits bedingt durch die Pandemie und andererseits wegen meines syrischen Passes, jenes kleinen blauen Hefts, das die Weite eines Landes einschrumpfen lässt, egal wie endlos es in Wirklichkeit scheint. Es reduziert die Heimat auf ein Bett in einer Zelle, abgeschnitten von der Welt.
Inmitten der riesigen Metropole Istanbul fühlte ich mich klein und verloren. Ich hatte gehofft, dass die Stadt mir und meinem Leben Raum bieten könnte, aber ihre Mauern waren zu hoch. In den Straßen wimmelt es von gesichtslosen Menschen, die es immer eilig haben. Ihre Augen sind offen, aber sie sehen nichts. Ihre Herzen sind verschlossen, und egal wie oft du anklopfst, sie öffnen ihre Türen nicht. Auch wenn ich damals ständig vom Trubel der Menschen umgeben war, fühlte ich mich ununterbrochen einsam.
Wie für alle Syrerinnen und Syrer ist Istanbul für mich in erster Linie ein großes Gefängnis. Unsere Hände sind in Ketten gelegt, der Reisepass oder Schutzausweis1 dient als Schloss. Ein solches Dokument sollte dich als Geflüchtete eigentlich schützen und deine Rechte wahren. In Wirklichkeit nützt es dir gar nichts. Denn die Gesetze ändern sich fast täglich – und kaum je zu deinen Gunsten.2
Dieses Gefängnis, egal wie lange du darin lebst, und selbst wenn du etwas Schönes darin erkennst: Es wird niemals eine Heimat sein.
Im Libanon ist Heimat für mich der Schoß meiner Oma Alia. Eigentlich sollte ich Libanesin sein, wie meine Mutter. Aber das libanesische Gesetz verbietet es einer Frau, ihre Staatsbürgerschaft an Kinder oder Ehemann weiterzugeben. Eigentlich war ich auch im Libanon völlig fremd. Ich fühlte mich dort gleich zweifach fehl am Platz: wegen der Gesetze und wegen der vorwurfsvollen Blicke. Seit meiner Kindheit hatten mich die Menschen hier wie eine Fremde behandelt und mich oft für die Verbrechen des syrischen Regimes im Libanon verantwortlich gemacht. Daher konnte das Land niemals eine Heimat für mich sein.
Erst Jahre nach meiner Auswanderung aus Syrien wurde mir klar, dass eine Heimat für mich nie existiert hatte. In meinem Wohnort Damaskus sind mir die dortigen Sitten, Traditionen und rückschrittlichen Prinzipien aufgezwungen worden. Die verlangte Konformität wirkte wie ein Korsett, das ich nicht ablegen durfte. Ständig war ich mit Vorurteilen konfrontiert: Ein gutes Mädchen trägt keinen Nasenring; ein Mädchen bedeckt seinen Körper, sonst wird es von Männern sexuell belästigt; ein Mädchen muss sich feminin geben; ein wohlerzogenes Mädchen schimpft nicht; ein Mädchen mit geschiedenen Eltern sollte so schnell wie möglich heiraten (denn wer würde es später noch nehmen?); die Endstation eines Mädchens ist das Haus seines Mannes … Damals schien mir, als gehöre mir mein Körper nicht. Ich mochte ihn nicht. Deshalb hat mich das Gefühl der Fremdheit stets begleitet.
Mit der Revolution änderte sich all das. Sie befreite mich und gab mir das Gefühl, dazuzugehören. Plötzlich spürte ich, dass meine Existenz von Bedeutung war. Ich konnte ich selbst sein, ohne irgendeine Maske aufzusetzen.
Dieses Gefühl entstand bei mir, als ich 2011 zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahm. Damals fühlte ich mich stark und hatte ein Ziel. Ich war nicht mehr allein; all diese Menschen standen an meiner Seite. Alle fühlten sich so fremd wie ich und suchten nach einer neuen Heimat, zu der sie gehören wollten.
Für mich und für viele andere Menschen war die Revolution eine Heimat.
- 1Die türkische Regierung stellt einen Ausweis aus, der syrischen Geflüchteten in der Türkei seit dem Ausbruch der Unruhen 2011 befristeten Schutz gewährt und sie vor der Abschiebung bewahrt. Dennoch kommt es immer wieder zu scheinbar willkürlichen Abschiebungen von Inhaber*innen dieses Ausweises. Das Dokument schränkt zudem die Mobilität von Geflüchteten stark ein: Inhaber*innen dürfen ausschließlich mit Genehmigung der Behörden das Land verlassen oder sich zwischen den verschiedenen türkischen Provinzen bewegen. Nur syrische Geflüchtete, die neben dem Schutzausweis auch eine Aufenthaltsgenehmigung besitzen, sind von dieser Regelung ausgeschlossen. Die Reiseerlaubnis ist befristet, und Antragsteller*innen müssen sich vor Ende der Frist zurück in ihre Provinz begeben.
- 2Der Aufenthalt syrischer Geflüchteter auf türkischem Boden wird von Gesetzen geregelt, die sich ständig ändern. Meist beabsichtigen diese Änderungen, die Mobilität und Arbeitschancen von Geflüchteten weiter einzuschränken und sie in endlose Behördengänge, zum Beispiel für Genehmigungen zum Reisen und Arbeiten, zu verstricken. Zudem gibt es kein klares Gesetz zur Einbürgerung, geschweige denn einen gesetzlichen Rahmen zum Schutz vor Diskriminierung und Ausbeutung bzw. um die Rechte Geflüchteter auf faire Gehälter, Jobs, Wohnungen und anderes zu bewahren.
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