Wenn du halb in der Sonne und halb im Schatten geboren wirst

Alaa hat sich mit ihrem weiblichen Körper versöhnt. Sie liebt ihren Körper und sie liebt es, eine Frau zu sein. Manchmal aber hat sie das Gefühl, in ihr wohne ein männlicher Geist, der ihren Körper allmählich verwandelt und zunehmend beherrscht. Sie lebt dann mehrere Tage in diesem Zustand, bis sich dieser Geist schrittweise wieder zurückzieht und sie ihren natürlichen Zustand wiedererlangt. Ist ihr „natürlicher Zustand" aber weiblich oder männlich? Oder vereint sie beide Zustände in sich?

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk.

Vor einiger Zeit adoptierte ich eine kleine schwarze Katze. Anfangs hielt ich sie für männlich und gab ihr einen männlichen Namen. Damals war sie gerade mal ein paar Wochen alt. Einige Monate später sagte meine Schwester zu mir: „Deine Katze Hadi ist nicht männlich, sondern weiblich.“ Das sorgte ein paar Tage lang für Unruhe zu Hause. Ich wollte die Katze weiterhin Hadi nennen, denn diesen Namen hatte ich gleich am ersten Tag für sie ausgesucht, weil sie sehr ruhig war. Aber wir probierten auch andere Namen aus: Manchmal verwendeten wir die weibliche Form „Hadia“. Meine Mutter versuchte, sie „Dudi“ zu nennen. Aber es brachte nichts. Also blieben wir dabei, ihn/sie Hadi zu nennen.

Dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, erkannte ich schon früh. Diese Feststellung beeinflusste einen großen Teil meines Denkens und begann, als mir mit sechs Jahren zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen den beiden Geschlechtern bewusst wurde. Ich schaute aus dem Küchenfenster und sah, dass ausschließlich Jungen auf der Straße spielten. In der kleinen, konservativen Ortschaft im Nadschd, in der ich aufwuchs, war es undenkbar, Frauen oder Mädchen aus dem Fenster auf der Straße zu sehen. Im Laufe der vergangenen beiden Jahre suchte ich im Internet Antworten auf meine Fragen. Beim ersten Mal gab ich bei Google ein: „Was bedeutet es, wenn man sich gleichzeitig männlich und weiblich fühlt?“ Ich war erstaunt, so viele Antworten zu finden. Kurz vor meiner Google-Suche war ich nach Hause gekommen und hatte meinem Bruder von meinem Tag erzählt. Während unseres Gesprächs regte ich mich innerlich enorm über die weibliche Formulierung auf, mit der er mich ansprach, obwohl mich das normalerweise nicht ärgert. Doch in diesem Moment fühlte ich mich männlich: als Bruder meines Bruders und nicht als seine Schwester. Ich verspürte den Wunsch, aufzustehen und zu ihm zu sagen: „Was würdest du sagen, wenn es mein Wunsch wäre, mich in einen Mann umzuwandeln“? Aber ich schwieg, da ich wusste, dass diese Gefühle nur kurzweilig waren und dass ich mit meinem weiblichen Körper prinzipiell glücklich bin. Ich liebe mein Dasein als Frau. Aber manchmal, oder sagen wir meistens, habe ich das Gefühl, als würde der Geist einer anderen Person in mir leben, ein männlicher Geist, der meinen Körper allmählich verwandelt und ihn zunehmend beherrscht, bis ich von ihm gefüllt bin und einige Tage in diesem Zustand verweile. Dann zieht er sich schrittweise zurück und ich kehre in meinen natürlichen Zustand zurück. Aber eben nicht in meinen weiblichen Zustand, sondern in den natürlichen Zustand einer Person, die in der Mitte zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit steht. Denn die meiste Zeit habe ich weder das Gefühl, männlich zu sein, noch fühle ich mich weiblich, noch sonst als irgendetwas, was sich in Worten beschreiben ließe. „Was bedeutet es, dass jemand männlich oder weiblich ist?“ ist eine Frage, die ich versuche mit Poesie zu beantworten.

Ich habe im Laufe meines Lebens viel geschrieben. Und das meiste davon war unbeabsichtigt in männlicher Formulierung verfasst. Es geschah ganz einfach so. Ich habe viele Kommentare von Leser*innen und Kritiker*innen dazu erhalten, aber für mich waren diese Kommentare trivial, denn ein*e Autor*in oder Dichter*in sollte sich von seinem oder ihrem angeborenen Geschlecht nicht einschränken lassen. Schreiben öffnet Perspektiven und wir schreiben, um uns von allem frei zu machen. Wir befreien uns sogar von uns selbst und dem, was wir sind. Wir schreiben das, was wir wollen. Das antwortete ich manchmal, einfach um etwas zu antworten. Doch auch jenseits des Schreibens beschäftigten mich diese Fragen. Ich fraget mich: „Wenn das Schreiben neue Perspektiven und alternative Realitäten erlaubt, in denen die Normen des wirklichen Lebens keine Geltung haben, warum zögere ich dann in meinem – wirklichen – Leben so sehr, für mich die weibliche Form zu verwenden? Wenn ich zum Beispiel schreiben möchte, dass ich eine Dichterin bin, zögere ich, diese weibliche Form zu nehmen. Ich schreibe erst Dichterin und entferne anschließend die weibliche Endung, so dass ich zum Dichter werde. Dann aber merke ich, dass diese reine Männlichkeit mich auch nicht repräsentiert. Ich bin also keine Dichterin mit weiblicher Endung und kein Dichter ohne sie. Wer aber bin ich dann?

Gibt es überhaupt weibliche und männliche Verhaltensweisen oder sind das bloß gesellschaftliche Rollen?

Ich lehnte es ab, kategorisiert zu werden und begann meine Ablehnung gegen das Schubladendenken öffentlich zu formulieren. Ich stelle mir das Leben wie einen großen Supermarkt vor und die Menschen als vorsortierte und auf Regalen verteilte Packungen und ich hasste diese Vorstellung. Indem ich die Kategorisierung ablehne, kann ich meine Freiheit behalten und bleibe fern aller Regale. Aber auch hier frage ich mich: „Lehne ich nur die Kategorisierung ab? Oder weiß ich eigentlich gar nicht, wie ich mich selbst einordne? Warum müssen wir uns selbst einordnen?!“

Jedes Mal, wenn ich versucht habe, mich in das weibliche oder männliche Rollenbild einzufügen, fühlte ich mich von beiden eingeengt. Ich bin männlich und weiblich zugleich. Was ist das Problem daran? Warum muss ich eines von beiden sein oder gegen meinen Willen zu einer der beiden Seiten tendieren? Ich fühle mich voller Kraft und Energie, wenn das Männliche und das Weibliche sich in meinem Inneren vereinigen. Und nicht nur das, ich habe das Gefühl, dass sie eins sind: ein vollständiger Mensch. Die Aufteilung in männlich und weiblich sehe ich als Aufspaltung eines an sich perfekten Ganzen in zwei Teile. Die Vereinigung von Männlichkeit und Weiblichkeit ist mein Selbst, wie ich es die meiste Zeit wahrnehme. Am liebsten bezeichne ich mich selbst ganz einfach als Menschen. Punkt. In diesem Zustand bin ich vollkommen ausgeglichen. Aber der Zustand ist wie eine Sanduhr: Wenn sich die eine Hälfte der Uhr füllt und sich dafür die andere leert, beginne ich zu schwanken. Meine Zeit auf der einen Seite läuft ab und ich werde jetzt zur anderen Seite wechseln. Kompliziert, oder?

Als ich das erste Mal den Ausdruck „aus dem Schrank kommen“ hörte, habe ich ein paar Tage darüber nachgedacht. Ich fragte mich: „Bin ich innerhalb des Schrankes oder außerhalb? Gibt es in meinem Leben denn überhaupt einen Schrank?“ Ich fand keine Antwort und versuchte, mir Erinnerungen an Episoden meines Lebens wachzurufen, um herauszufinden, wie mein Umfeld mich sieht. Ich erinnerte mich an den Vorfall mit meiner schwarzen Katze, als wir versuchten, ihr Geschlecht herauszufinden. Damals sagte ich im Scherz: „Am Ende werden wir feststellen, dass sie weder männlich noch weiblich ist.“ Meine Mutter lachte darüber und sagte im Scherz: „Genauso wie du.“ Dann herrschte Schweigen, bis sie fortfuhr: „Bei dir weiß doch auch niemand, ob du ein Junge oder Mädchen bist.“ Damals sagte ich, damit es nicht wie ein Vorwurf aussah: „Ich bin beides.“ Da lachte sie ironisch und sagte: „Dann müssen wir dich wohl töten... Gibt es nicht Hadithe, die sagen: Tötet die Zwitter?“ Dann stieß sie ein hässliches Lachen aus und ging aus dem Zimmer. In diesem Moment fragte ich mich: „Was bedeutet Zwitter? Und trifft das auf mich zu?“ Ich schaue auf meinen Körper und sehe einen weiblichen, einen schönen Körper. Wenn ich ein Kleid trage, ziehe ich die Blicke auf mich und alle preisen meine Schönheit. Ich bin eine Frau und wenn ich bei dieser Seite bliebe, könnte ich es mir leichter machen. Da ich mich manchmal zu Männern hingezogen fühle, könnte ich einen Mann lieben und heiraten, also die sichere Seite wählen und jegliche Konflikte vermeiden. Denn ich bin nun mal in einem weiblichen Körper geboren worden und habe kein Problem damit. Warum aber komme ich dann nicht zur Ruhe? Warum wähle ich nicht den sicheren Weg und lebe mein Leben in Frieden, anstatt den ständigen Konflikt zu riskieren? Ist die Sache es wert, dass ich mich zu dem bekenne, was sich in meinem Inneren abspielt? Wäre es nicht besser, wenn ich weiterhin alles abstreite, selbst wenn die Sache ganz eindeutig ist –  so eindeutig, dass die Menschen in meinem Umfeld sich oft über mein Geschlecht Gedanken machen, einfach deshalb, weil ich mich manchmal – oder sagen wir meistens – männlich verhalte? Aber gibt es denn überhaupt weibliche und männliche Verhaltensweisen oder sind das bloß gesellschaftliche Rollen? Woher wusste meine Mutter eigentlich von meinen inneren Konflikten? Was unterscheidet mich von meinen Schwestern? Auch wenn wir unterschiedliche Persönlichkeiten haben sind wir doch alle mehr oder weniger unabhängige und starke Mädchen, denen niemand etwas aufzwingen kann. Körperlich wurde ich weiblich geboren, so wie sie. Während meiner Kindheit hörte ich viele Schmeicheleien über meine Schönheit. Was fehlte also? Ich dachte, Coming-out bedeutet doch, dass ich bekenne, dass etwas Bestimmtes passiert. Aber was ist, wenn alle es schon wissen und ich selbst es leugne oder mir selbst nicht eingestehen will oder mit niemandem darüber diskutieren will? Ich drücke mich immer aus, auf jede mögliche Weise, ohne Angst und ohne zuzulassen, dass irgendjemand mir vorgibt, wie ich mich geben müsste und auf was ich achten müsste. Da ich in einem äußerst repressiven religiösen Umfeld mitten in der Wüste aufgewachsen bin, bevorzugte ich es, alles offen zu tun und in die Offensive zu gehen, bevor man mich angreifen kann. Daher fürchten die Mitglieder meiner Familie manchmal die Diskussion mit mir. Vermutlich wäre ich, wenn ich mich nicht von klein auf durchgesetzt hätte, repressiver Unterdrückung viel mehr ausgesetzt gewesen.

Ich möchte mich ungern einer ignoranten Gesellschaft ausliefern oder einer Familie, die mir sämtliche Privilegien entziehen würde

Ich habe viele Konflikte mit meiner Familie ausgetragen. Es ging um Religion, den Hijab, die Berufswahl. Diese Konflikte haben uns alle ermüdet. Heute aber hat jede*r das, was sie oder er wollte. Ich habe meinen Freiraum und wir haben uns gemeinsam von dem Dauerkonflikt erholt. Wir haben alle unseren Standpunkt gefunden. Ich lasse alle in Frieden und alle lassen mich in Frieden. Sollten wir es nicht einfach dabei belassen? Mit meinen Eltern über die Geschlechterfrage zu sprechen, würde auch das Thema sexueller Neigungen zur Sprache bringen und ich glaube, das würden sie niemals akzeptieren. Es würde ihnen nur noch mehr Sorgen bereiten. Ich erwarte von ihnen keine Akzeptanz. Denn nach zahlreichen Konflikten habe ich das Gefühl, dass es nicht mehr darum geht, dass sie mich akzeptieren. Ich habe mich selbst angenommen und brauche es nicht mehr, von außen angenommen zu werden.

Meine Geschwister wissen Bescheid. Nicht explizit, aber es geschehen einfach Dinge, die alles offensichtlich machen. Meine Vorgehensweise ist, dass ich mich selbst so ausdrücke, wie ich will. Aber wenn jemand nachfragt, meide ich die Diskussion, gehe aus dem Zimmer oder wechsele das Thema. Auf diese Weise spiele ich mit allen Katz und Maus. So geht das Leben weiter. Was das „Coming-out“ angeht, so bedeutet es letztlich, dass ich „mich bekenne“ oder „mir selbst Dinge bestätige“. In meinem Leben habe ich mich daran gewöhnt, mit einem Bein im Schrank zu stehen und mit dem anderen außerhalb. Womöglich sind diese Befürchtungen unbegründet, vielleicht komme ich irgendwann ganz aus dem Schrank und nichts passiert, vielleicht aber führt das dann auch zu endlosen Konflikten. Aktuell aber bevorzuge ich es, zu bleiben wo ich bin und mich auf wichtigere Dinge in meinem Leben zu konzentrieren, wie die vollständige Unabhängigkeit und Erfolg in dem Beruf, den ich liebe: Filmregie. Wenn es soweit ist, werde ich meinen Sorgen, Problemen und Fragen lieber mit dem Mittel der Kunst Ausdruck verleihen. Das ist meine Art und so war sie immer.

Früher habe ich mich durch Poesie ausgedrückt. Alle wussten alles, ohne dass ich zur direkten Konfrontation gezwungen war. Selbst wenn ich oft für meine Dichtung zur Rede gestellt wurde, habe ich doch jedes Mal gesagt: „Das ist nur Poesie.“ Bis jetzt möchte ich mich ungern einer ignoranten Gesellschaft ausliefern oder einer Familie, die mir sämtliche Privilegien entziehen oder mich bestenfalls als Enttäuschung betrachten würde. Ich werde mich selbst auf die Weise ausdrücken, mit der ich mich wohl fühle. Ich wüsste gar nicht, wie ich all meine Widersprüche und Ängste anders ausdrücken könnte, als durch die Kunst. Wenn mich jemand fragt, werde ich sagen: „Das ist nur ein Film.“ Oder: „Das ist nur Poesie.“ Auf diese Weise entziehe ich mich der gesellschaftlichen Verurteilung, wenngleich ich ihr nicht vollständig entkommen werde. Ebenso vermeide ich den Tod oder Selbstmord. Dieser Stil der Vortäuschung hat mir geholfen, damit zu leben. Das heißt, ich verberge mich nicht gänzlich und ersticke nicht daran. Und dennoch gelingt es mir so, mich weitgehend vor der ignoranten Masse und ihren Waffen zu schützen.